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Frauen in Tunesien
#146461
16/11/2001 12:33
16/11/2001 12:33
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mel
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Auf der Avenue Bourguiba im Stadtzentrum von Tunis regeln Verkehrspolizistinnen den Verkehr - ein in der arabisch-islamischen Welt einzigartiger Anblick. Wann immer vom modernen, fortschrittlichen Tunesien die Rede ist, kommt das Thema Frauen auf den Tisch. Dazu kann das Land tatsächlich einiges vorweisen, allen voran eine Gesetzgebung, die in der arabisch-islamischen Welt ihresgleichen sucht. Am 13. August 1956, nicht einmal ein halbes Jahr, nachdem Tunesien seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangt hatte und noch bevor die Republik ausgerufen war, wurde der Code du Statut Personnel (Personenstandsgesetz) erlassen, der einige revolutionäre Neuerungen gegenüber den zuvor geltenden islamischen Rechtsvorschriften enthielt: Abschaffung der Polygamie, Notwendigkeit der Zustimmung der Frau zur Heirat, Abschaffung der einseitigen Auflösung der Ehe durch Verstoßung seitens des Ehemannes. Daß diese Reformen beim religiösen Establishment alles andere als Begeisterung auslösten, ist unschwer zu erraten. Die Frauenfrage war für den ehemaligen Staatspräsidenten Habib Bourguiba, der das Land in die Unabhängigkeit führte, ein wichtiger Bestandteil seiner Modernisierungspolitik. Unter seinem Nachfolger Ben Ali wurde 1993 das Frauen- und Familienministerium geschaffen. Ben Ali führte weitere Gesetze ein, die die rechtliche Stellung der Frauen stärken: Seit 1993 haben die tunesischen Frauen ein ausdrückliches Mitspracherecht bei allen Fragen, die ihre minderjährigen Kinder betreffen. Sie bekommen nun das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen, wenn der Vater sich dieser Aufgabe nicht gewachsen erweist. Indessen wurde an einer Grundregel des islamischen Erbrechts bis heute nicht gerüttelt: Einer Frau steht lediglich die Hälfte des Erbteiles eines Mannes zu. Papier ist geduldig. Bei aller Progressivität, was die gesetzliche Stellung der Frau anbelangt, sieht der Alltag vieler Frauen, besonders auf dem Lande, nach wie vor ziemlich düster aus. Die Situation der Frauen in den Städten ist mit den Verhältnissen auf dem Lande nicht zu vergleichen. Wenn mal einmal von Hammamet nach Tunis fährt, wird einem dieser Kontrast sehr plakativ vor Augen geführt. In Stadt werden uns adrette Angestellte auf dem Weg zur Arbeit in Geschäften, Banken und Hotels begegnen, eine halbe Stunde später auf einem Trampelpfad neben der Autobahn bietet sich dann ein ganz anderes Bild: Dort laufen schmächtige Landfrauen, von der Last ihrer riesigen, mit Brennholz bis ohnhin gefüllten Kiepen fast zu Boden gedrückt. Dabei ist das Brennholzsammeln nur eine der schweren Arbeiten, die die tunesischen Landfrauen verrichten. Einer im Norden Tunesiens durchgeführten Studie zufolge verbringen die Frauen im Durchschnitt 7 - 18 Stundene pro Woche mit Brennholzsammeln, das sind 600 Stunden harter körperlicher Arbeit im Jahr. Kritik an der Lage der Frauen ist, neben der gleichzeitigen Anerkennung des bisher erzielten Fortschritts, durchaus im Lande selbst zu vernehmen. So listet der Berich des Frauenforschungs- und Dokumentationszentrums CREDIF aus dem Jahre 1994 eine ganze Reihe von Mißständen, insbesondere in ländlichen Gebieten, auf: die unzureichende Bildungssituation und die teilweise miserablen hygienischen Bedingungen, die die Frauen in ihrer Sorge um die Familie besonders belastet (gut die Hälfte der Haushalte auf dem Land haben kein fließendes Wasser). Aber nicht nur auf dem Lande sind Defizite zu beklagen. Frauen kommen selbst in den Städten in vielen Bereichen nicht richtig zum Zuge: der Prozentsatz von Frauen in höheren Positionen von Wirtschaft, Verwaltung und Politik ist verschwindend gering - ein Thema, das Westeuropäerinnen ebenso vertraut sein dürfte wie Tunesierinnen.
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Re: Frauen in Tunesien
#146463
17/11/2001 01:09
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mel
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Lalla Manoubia, die rebellische Heilige Die wenigsten der vielen Heiligen, deren Zaouias (Heiligengräber) sich überall in Tunesien befinden, sind Frauen. Eine davon ist Lalla Manoubia, die berühmte Heilige von Tunis, die im späten 12. Jahrhundert lebte. Um ihre Person ranken sich vielerlei Legenden; ihr Schicksal wird bis in die heutige Zeit in Volksliedern besungen. Der Überlieferung zufolge traten die übernatürlichen Fähigkeiten der kleinen Aicha aus El Manoubia bei Tunis im Alter von 12 Jahren zutage. Das Mädchen, das der Überlieferung zufolge "schön war wie Sonne und Mond zugleich", streifte mit Vorliebe durch die freie Natur. Bei einem ihrer Streifzüge traf sie auf den heiligen Sidi Bel Hassen und fing unter einem Johannisbrotbaum eine Unterhaltung mit dem frommen Mann an. Dabei wurde es von Dorfbewohnern gesehen, die sogleich ihrem Vater vom ungebührlichen Verhalten seiner Tochter erzählten. Dieser fürchtete um den guten Ruf seiner Familie und verbot seiner Tochter, fortan das Haus zu verlassen. Um ihrem Vater und der ganzen Dorfgemeinschaft ihre Tugendhaftigkeit zu beweisen, vollbrachte Aicha ein Wunder. Sie tötete einen der zwei Ochsen des Vaters, behielt die Haut und verteilte das Fleisch unter den Nachbarn mit der Bitte, ihr die Knochen anschließend zurückzubringen. Den ganzen Tag und die halbe Nacht lang verbrachte Aicha in inbrünstigem Gebet, und siehe da, um Mitternacht war der Ochse wieder auf den Beinen. Dieses Wunder überzeugte zwar ihren Vater, nicht aber ihren Onkel, der sie mit seinem Sohn - der Sohn des Onkels väterlicherseits galt und gilt zum Teil heute noch als der Ehepartner par excellence - verheiraten wollte. Alles Sträuben Aichas half nichts, die Hochzeit war eine ausgemachte Sache. In der Hochzeitsnacht soll die Braut den ungeliebten Mann mit einem magischen Pfeil getroffen haben, worauf er dem Wahnsinn anheimfiel. Sie selbst wurde am nächsten Morgen tot im Brautgemach aufgefunden. Soweit die Legende. Die historische Realität sieht wohl etwas anders aus. Danach hat Aicha sich, nachdem der angetraute Ehemann kurz nach der Hochzeit von einer rätselhaften Krankheit dahingerafft wurde, entgegen allen Gesetzen der Gesellschaft mit einigen treuen Gefolgsleuten am Stadtrand von Tunis niedergelassen und ihren Lebensunterhalt bis in ihr hohes Alter mit Spinnen verdient. Ob Dichtung oder Wahrheit, Lalla Manoubia wurde als Anwältin der Armen und Unterdrückten über die Jahrhunderte verehrt, ihr Grab im Stadteil Montfleury in Tunis gilt wie alle Heiligengräber als Zufluchtsort für Schutzsuchende und Ausgestoßene und geheimer Treffpunkt. Gerade unter den Frauen ist die Heiligenverehrung weiterhin sehr verbreitet. Die typischen Tage für einen Besuch des Grabes von Lalla Manoubia sind Montag und Freitag. In Bittgebeten wird die Heilige, die sich der Überlieferung zufolge als "Leutnant Gottes auf Erden" bezeichnete, um ihre Fürsprache gebeten. Um die Heilige gnädig zu stimmen, wird ihr ein fertig gekochtes Couscous-Gericht, Fleisch von Opfertieren oder Olivenöl dargebracht. Den Machthabern und orthodoxen Kreisen war der Heiligenkult grundsätzlich immer sehr suspekt, schließlich untergrub er ihren Anspruch auf Autorität und auf die einzig richtige Auslegung der Religion. Daher wurden mystische Tendenzen erbittert bekämpft, zuletzt nach der Unabhängigkeit Tunesiens, denn die Heiligenverehrung paßte einfach nicht in das Image des modernen Staates. Aber die Tradition des Volksglaubnens hat sich nicht ausrotten lassen, so auch nicht die mystische Verehrung einer Frau, die es gewagt hatte, sich dem Willen ihres Vaters zu widersetzen.
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Re: Frauen in Tunesien
#146469
16/11/2001 15:11
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Jede fünfte Arbeitskraft in Tunesien ist eine Frau. Diese Zahl paßt wenig zum weitverbreiteten Klischee vom arabischen Ehemann und Vater, der Frau und Töchter in den eigenen vier Wänden einsperrt, um sie von der Männerwelt abzuschirmen. Die Frauen arbeiten, weil ein einziges Gehalt angesichts steigender Lebenshaltungskosten nicht mehr ausreicht, um eine Familie zu ernähren. Aber es geht in Tunesien, wo das Pro-Kopf-Einkommen höher ist als in allen anderen arabisch-afrikanischen Ländern (mit Ausnahme der Erdölländer auf der arabischen Halbinsel), in vielen Familien längst nicht mehr nur ums nackte Überleben, sondern auch darum, sich mit dem zusätzlichen Gehalt die eine oder andere Annehmlichkeit leisten zu können, beispielsweise einen Gebrauchtwagen oder eine kleine Reise. Je weiter oben in einem Unternehmen oder einer Institution, desto weniger Frauen - dieses wohlbekannte Phänomen findet ihr auch in Tunesien. Mehr als die Hälfte der Frauen arbeitet in der Industrie, vor allem in der Textilindustrie; ihre Löhne liegen deutlich unter denen der Männer. Ein Viertel der berufstätigen Tunesierinnen arbeitet in der Landwirtschaft, die trotz Industrialisierung immer noch einen sehr bedeutenden Wirtschaftszweig des Landes darstellt. Viele Frauen sind als nicht registrierte und damit sozial in keiner Form abgesicherte Arbeitskräfte im sogenannten informellen Sektor tätig, beispielsweise als Haushaltshilfen. Die Arbeit von Frauen in der Landwirtschaft ist ein Kapitel für sich: 80 % der Landfrauen arbeiten ohne Bezahlung im eigenen Familienbetrieb. Fremde Arbeitskräfte, die selbstverständlich am Ende der Woche ihren Lohn einfordern, würden den kleinen Familienbetrieben das Genick brechen; überleben können die Betriebe nur mit Hilfe der unentgeltlichen Arbeit der weiblichen Familienmitglieder. Die Belastung für diese Frauen ist enorm, denn sie müssen nicht nur in der Landwirtschaft zupacken, sondern auch noch die traditionellen Frauenaufgaben wie Wasser- oder Holzholen übernehmen. Weil die Arbeit in der Landwirtschaft wenig einbringt, wandern die Männer ab, sobald sie woanders bezahlte Arbeit - oft Saisonarbeit - finden. Dann obliegt es den weiblichen Familienmitgliedern, die Arbeit der Männer ganz oder zumindest teilweise zu übernehmen. Die meisten der Frauen, die für einen landwirtschaftlichen Betrieb verantwortlich sind, tun dies klaglos, nur jeder zwanstigste Betrieb wird offiziell von einer Frau geleitet, tatsächlich sind es viel mehr. Eine Frau als Chefin anzuerkennen, damit tun sich die Männer in Tunesien weiterhin schwer.
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Re: Frauen in Tunesien
#146479
17/11/2001 11:22
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Anonym
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Re: Frauen in Tunesien
#146483
24/11/2001 09:08
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Joined: May 2001
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Karim
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Stuttgart
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aus Financial times Deutschland: Die 90er Jahre boten vielen Staaten der Welt die einmalige Gelegenheit, auf den Zug des Wohlstands aufzuspringen - und die meisten Staaten waren fest entschlossen, diesen Sprung zu machen. Eine Region blieb jedoch von dieser positiven Entwicklung weitestgehend unberührt. Den arabischen und islamischen Staaten des Nahen Ostens ist es - mit Ausnahme der Türkei - bisher nicht gelungen, sich aus der Abhängigkeit vom Ölgeschäft zu befreien. Schlimmer noch: Trotz der Milliarden von Petrodollar, die aus aller Welt Jahr für Jahr in die Region fließen, lässt sich kaum ein nachhaltiger wirtschaftlicher Fortschritt erkennen. Ein Hauptgrund für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der islamischen Staaten von Marokko bis Iran ist ihr Mangel an berufstätigen Frauen. Der extremste Fall ist zweifellos Afghanistan, wo hoch qualifizierte Frauen - sofern sie nicht bereits vor dem Gewaltregime der Taliban geflohen sind - bis vor kurzem untätig zu Hause sitzen mussten.
Weibliche Ärzte durften keine kranken Patienten behandeln. Weibliche Ingenieure durften nicht die notwendigen Reparaturen an Gebäuden und Brücken planen. Weibliche Manager konnten das Land nicht aus dem Chaos retten, allein auf Grund ihres Geschlechts. Und das, obwohl die zerstörte Nation auf ihre Fähigkeiten angewiesen gewesen wäre.
Geringste Frauenerwerbsquote Selbst in den gemäßigteren Ländern der Region werden Frauen nicht dazu ermutigt, wirtschaftlich produktiv zu sein. Unter den 15 Staaten der Welt mit der geringsten Frauenerwerbsquote finden sich 13 arabische beziehungsweise islamische Staaten. Während Frauen weltweit rund 40 Prozent der Erwerbstätigen stellen, beträgt ihr Anteil im Nahen Osten und in Nordafrika gerade mal 27,3 Prozent.
Die zum Teil stark variierenden Quoten in den einzelnen islamischen Staaten erweisen sich dabei als überraschend verlässliche Indikatoren für die Öffnung der jeweiligen Regime gegenüber der nicht-islamischen Welt. So gelten beispielsweise Ägypten (mit einer Frauenerwerbsquote von 30,1 Prozent), Tunesien (31,4 Prozent) und Marokko (34,7 Prozent) noch am ehesten als offen und westlich orientiert.
Im Gegensatz dazu weisen die Golfstaaten die weltweit geringsten Frauenerwerbsquoten auf. In den Vereinigten Arabischen Emiraten (14,5 Prozent), Saudi-Arabien (15,5 Prozent) und Oman (16,1 Prozent) kommt auf sechs bis sieben männliche Erwerbstätige nur eine einzige Frau.
Diese Länder versuchen zwar, sich mit milliardenschweren Programmen aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Öl zu befreien. Doch ihre Planer scheinen nicht zu begreifen, dass das wichtigste Kapital jeder Volkswirtschaft das Volk selbst ist.
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