Bekleidungsindustrie in Tunesien und Marokko positioniert sich neu
Konkurrenzfähige Lohnkosten / Branchenführer aus Europa investieren kräftig / Von Siegfried Breuer

Tunis (bfai) - Die Textil- und Bekleidungsindustrie im Maghreb ist nach Auslaufen des Multifaserabkommens nicht wie befürchtet unter der chinesischen Konkurrenz zusammengebrochen. Im Gegenteil, die Etablierung des Marketingkonzeptes "fast fashion" auf dem europäischen Bekleidungsmarkt, verlangt immer kürzere Lieferzeiten und bringt damit für Standorte in räumlicher Nähe zu und einer guten logistischen Anbindung Wettbewerbsvorteile gegenüber Fernost. Marokko und Tunesien profitieren von der Entwicklung.

Die maghrebinischen Hersteller reagieren auf das Auslaufen der Quotenregelungen der EU für Bekleidungsimporte aus China zum Jahresende 2007 gelassen. Ende 2004, als das Multifaserabkommen unwirksam wurde, war die fernöstliche Konkurrenz noch als ernste Bedrohung für die Produktion in der Region angesehen worden. Aber der große Einbruch ist ausgeblieben und heute stimmen die sich wandelnden Konsumgewohnheiten in Europa und eine Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit wieder optimistisch.

Der Wettbewerb wird nach Meinung der Branche künftig weniger mit den fernöstlichen Anbietern ausgetragen werden, als unter der südlichen Anrainern des Mittelmeers. Vor allem Ägypten und die Türkei, die im Gegensatz zu den maghrebinischen Staaten über eine integrierte Textilindustrie verfügen, sind starke Konkurrenten.

Allerdings wird der Nachteil der geringen Produktionstiefe in Marokko und Tunesien - beide verfügen über keine industriellen Webereien - durch den Abbau der Handelshemmnisse ausgeglichen. Die Assoziierungsabkommen mit der EU, die bilateralen Freihandelsabkommen von Marokko und Tunesien mit der Türkei und das Agadir-Abkommen zwischen Tunesien, Marokko, Jordanien und Ägypten, das nach langer Anlaufzeit Mitte 2007 zumindest in Teilen wirksam geworden ist, wirken zusammen.

Die Vereinbarungen ermöglichen nicht nur den zollfreien Import von Vorprodukten wie Stoffen und Garnen aus Ägypten oder der Türkei, sondern darüber hinaus auch die Anrechnung dieser Importe auf die eigene Wertschöpfung und machen es damit wesentlich einfacher, die Kriterien für den zollfreien Zugang zum europäischen Markt zu erfüllen.

Die Textil- und Bekleidungsindustrie im Maghreb konzentriert sich auf die beiden Länder Tunesien und Marokko. Algerien als drittes Land des Kernmaghreb spielt in der modernen Textil- und Bekleidungsindustrie keine Rolle mehr. Algerische Produkte sind international nicht konkurrenzfähig, die Branche ist während der letzten 20 Jahre stark geschrumpft. Die eingeleitete, mit einer Privatisierung einhergehende Reorganisation des Textilsektors kann eine Neupositionierung algerischer Anbieter auf den internationalen Märkten allenfalls auf sehr lange Sicht bewirken.

Die Bekleidungsindustrie in Marokko und in Tunesien dagegen ist hoch leistungsfähig. In beiden Ländern arbeiten jeweils zwischen 1.600 und 1.700 Betriebe vornehmlich für den Export, jeweils ca. 200.000 Beschäftigte werden dem Textil- und Bekleidungssektor zugerechnet. Die Exporteinnahmen weisen 2006 mit je 2,7 Mrd. Euro in beiden Ländern den gleichen Wert aus und erreichen damit nahezu 30% der jeweiligen Gesamtexporte.

Mehr als 90% der Bekleidungsausfuhren beider Länder sind für den europäischen Markt bestimmt, wobei die marokkanischen Hersteller sich bisher auf die Länder Spanien, Frankreich und Großbritannien konzentrieren, die tunesischen etwas diversifizierter auf Frankreich, Italien, Deutschland und Belgien. Beide Länder sind dabei, neue Absatzmärkte in Europa zu erschließen, für Marokko steht aufgrund eines seit 2006 wirksamen Handelsabkommens mit den USA inzwischen auch der Überseemarkt offen.

Nach der Außenhandelsstatistik der EU hat Tunesien als Lieferland noch knapp die Nase vorn, es liegt 2006 mit einem Anteil von 3,3% an den gesamten Textil- und Bekleidungsimporten an sechster Stelle, Marokko nimmt mit 3,0% den siebten Platz ein, hinter der VR China, Türkei, Indien, Bangladesch und Hongkong. Die Zahlen des 1. Halbjahres 2007 lassen beide Länder in der Rangliste um einen Platz nach vorne rücken, da die Lieferungen aus Hongkong stark rückläufig waren.

In beiden Ländern sind 2006 und 2007 neue Investitionen in der Bekleidungsindustrie angekündigt worden, die in den nächsten Jahren zu einer Steigerung der Exporte führen werden. Die Entwicklung wird in sowohl in Marokko als auch in Tunesien von einem europäischen Großunternehmen der Bekleidungsbranche vorangetrieben. Das spanische Unternehmen, Inditex (Zara, Massimo Dutti), hat sich Marokko als strategischen Produktionsstandort in Nordafrika gewählt, die italienische Benetton-Gruppe baut ihr Engagement in Tunesien aus. Weitere Unternehmen, wie Fruit of the Loom und Legler in Marokko oder die Demart-Gruppe und Aubade in Tunesien investieren gegenwärtig in den beiden Maghrebländern.

Für die Firmen war die räumliche Nähe zu Europa und die gute logistische Anbindung der wichtigste Grund für die Entscheidung zugunsten des Maghreb. Die Trendsetter in der europäischen Massenmode arbeiten nach dem Konzept "fast fashion", das immer kleinere und immer rascher wechselnde Kollektionen erfordert.

Während früher je eine Kollektion pro Sommer- und Wintersaison produziert wurde, liegt der Durchschnitt in Europa im Jahr 2007 bei 4,7 Kollektionen und wird nach den Prognosen des Institut Français de la Mode (IFM) bis 2010 auf 6,8 Kollektionen, also mehr als drei pro Saison ansteigen. Unter "fast fashion" fallen 2008 nach der gleichen Quelle mehr als 80% des Absatzes von höherwertiger Bekleidung in der EU.

Unter dieser Prämisse sind die Aussichten für die beiden Maghrebstaaten als sehr gut zu beurteilen. In beiden Ländern wird weiter an der Verbesserung der logistischen Anbindung an Europa gearbeitet. Der neue Tiefseehafen in Tanger (Marokko), dessen erster Terminal Mitte 2007 in Betrieb genommen worden ist, bietet mit einer angegliederten Zollfreizone (Tanger Free Zone) hervorragende Standortbedingungen für exportorientierte Bekleidungsbetriebe.

Tunesien verfolgt ebenfalls ein neues Hafenprojekt mit angegliederter Industriezone, ist gegenüber Marokko allerdings ein wenig in Rückstand geraten, erst im Januar 2008 erfolgte die lange angekündigte Ausschreibung zur Präqualifikation für den Bau des Tiefseehafens Enfidha, 80 km südlich von Tunis.

Die logistischen Vorteile der Region Maghreb werden ergänzt durch weiche Standortfaktoren wie langjährige Erfahrung in der Produktion hochwertiger Textilien, einem Potenzial gut ausgebildeter Textilfacharbeiter und -ingenieure und eine Administration, die mit den Anforderungen exportorientierter Bekleidungshersteller vertraut ist. Zusätzlich gewähren beide Länder interessante finanzielle Anreize in Form von Investitionszuschüssen, Steuer- und Zollbefreiungen.

Die Lohnkosten spielen für die Investitionsentscheidungen natürlich auch eine Rolle, sind aber nicht der wichtigste Faktor. Sie liegen nach einer Analyse der Textilconsulting Werner International in beiden Ländern zwischen 2,2 und 2,6 US$ pro Stunde, das Niveau in Marokko ist geringfügig höher als das in Marokko. Damit fallen die Lohnkosten im Maghreb zwar erheblich höher aus als in der VR China (0,8 US$) und liegen bei mehr als dem Doppelten des ägyptischen Niveaus, sind aber niedriger als in der Türkei.

(S.B.)
Quelle: bfai.de