Auf den Straßen Arabiens
Gesendet von: "Die Welt_5.2.2010" Die Welt_5.2.2010
Sam 6. Feb 2010 10:09


Auf den Straßen Arabiens
Von Marko Martin 5. Februar 2010, 04:00 Uhr
Die lebenswirkliche Vielfalt in Nordafrika ist größer, als jede Theorie wahrhaben will - Impressionen eines Flaneurs

Natürlich: "Die arabische Straße", eine Art mental-städtearchitektonischer Topos, in unserer medialen Wahrnehmung, ist jederzeit abrufbar. Das als homogen, Fäuste schüttelnd und reizbar dargestellte Empfinden dieser "Straße" nur nicht zu reizen, raten deshalb die Ängstlichen; es kulturrelativistisch und um nahezu jeden Preis zu respektieren, die beflissenen Islam-Versteher. Angesichts dieses Gewissheiten-Aufgebots hat es der Flaneur schwer - besonders dann, wenn er selbst im Differenzierungsgebot seiner Gilde ("Sei visuell und subjektiv, aber urteile nicht") Ideologie wittert. Nun aber führte der Zufall den Autor dieser Zeilen innerhalb eines Monats sowohl in die Republik Tunesien wie in das Sultanat Oman, wo er ausgiebig Zeit hatte, sich die dortigen Straßen zu erwandern. Und da es sich bei ihm (soviel Eigenlob des Reisenden muss sein) um keinen ehemaligen Linken handelt, fürchtet er auch keineswegs den Vorwurf des "Theoriedefizits" und der "falschen Unmittelbarkeit", ja er hat nicht einmal Angst, mit seinen Augen lediglich "Nebenwidersprüche"

Was auf den Straßen von Tunis, Sousse, Monastir, Kairouan und Tozeur nämlich zu sehen ist, ist dies: Pure Stagnation, eingehüllt in den grau-kalten Nebel der aus den Auspuffrohren altertümlicher Autos und klappriger Mopeds dringt, vermischt mit dem Chicha-Rauch aus den Mündern der unermüdlichen Wasserpfeifenraucher, die mit mürrischer Miene schon am frühen Vormittag die unwirtlich gekachelten Straßen-Cafés bevölkern. Wo aber sind die Frauen, wo doch Tunesien dafür bekannt ist, ihnen verfassungsmäßige Gleichheit zu garantieren und damit eine Art Vorreiter in der arabischen Welt darzustellen? Nun - sie arbeiten. Verkaufen in Läden, deren Mode-Produkte irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein scheinen und an die späte DDR erinnern, knipsen Fahrscheine in den selbst in der "Première classe de luxe" heruntergekommenen Vorortzügen, die ins einst idyllische Sidi Bou Said oder hinaus nach Karthago zuckeln, oder regeln als schmuck gekleidete Polizistinnen den hauptstädtischen Schrottwagen-Verkehr.
Spätestens hier müssten die Vertreter der reinen Säkularisierungslehre ins Grübeln geraten, denn fast keine der Frauen trägt das Kopftuch. Auch die an den Hauswänden in anderen Ländern immer wieder auftauchenden Schmäh-Graffitis gegen die USA und Israel (den "Großen und Kleinen Satan") wird man in Tunesien, das überdies keine Probleme mit israelischen Visa im Reisepass hat, vergeblich suchen. Zynischer Gedanke: Wo sollten auch jene Graffitis noch Platz finden, wo doch an beinahe jeder Wand und auf jedem zweiten Plakat, an jedem Ticketschalter und in jedem Restaurant und Laden zumindest ein Bild des seit 1987 herrschenden, mindestens millionenschweren Präsidenten Ben Ali hängt, der sich bei "Wahlen" mit 98prozentigen Ostblock-Ergebnissen bestätigen lässt? Radikal-islamistische Parteien sind dagegen im Land ebenso verboten wie demokratisch-kritische Berichterstattung, doch immerhin ist seit dem Djerba-Attentat von 2002 die Sicherheitslage stabil und darüber hinaus die finanziellen Einnahmen dank des weiterhin boomenden Pauschaltourismus enorm.
Weshalb aber dann dieses Rüde, der allgegenwärtige Müll und die über das ganze Land verstreuten blauen Plastiktüten, das deprimierend Inselartige der in der Tat beeindruckenden Ausgrabungsstätten von Karthago, weshalb diese kulturelle Leere selbst in der Hauptstadt, die allgegenwärtige Internet-Zensur und das absurde Verbot von Youtube in den wenigen Cyber-Cafés, die verfallenen Bürgerhäuser aus der Franzosenzeit (welche übrigens nicht mit einem traumatisch erlebten Bürgerkrieg endete wie in Algerien, sondern mit der nahezu reibungslosen Inthronisierung des bis 1987 autoritär herrschenden Präsidenten Bourgiba)? Vielleicht liegt es ja an den Männern, die nicht im Café ihre arbeitslose Zeit versitzen und unter einem Bildschirm mit zirpernder Geigenmusik in den nachrichtenlosen offiziellen Zeitungen blättern, sondern stattdessen in Anoraks und schlecht sitzenden Jacketts an den Straßenecken und in tatsächlich jeder Hotellobby herumlungern.
Sie sind die Wächter im Reiche Ben Alis, der sich bei Empfängen in seinen zahlreichen Palästen so gern als "moderat und pro-westlich" feiern lässt; unzählige Sicherheitsbeamte und Spitzel, von denen man gern wissen möchte, wie viel der Staat ihnen zahlt, damit sie die Ruhe unter dem Mehltau garantieren. Nicht auszudenken, wenn es hier dennoch einmal knallen sollte und fehlende Zukunftsperspektiven durch eine fundamentalistische Heilsidee populistisch umgeleitet werden würden.
Doch ehe der Reisende dies nun der Religion anrechnet oder dem sexuellen Frustrationspotential, das die rigide Geschlechtertrennung hier produziert, ist er schon in Muskat, der Hauptstadt des Sultanats Oman. Aber hatte nicht auch hier ein Alleinherrscher einen anderen abgesägt - und zwar 1970, als der alte reaktionäre Sultan von seinem Sohn Qaboos bin Said Al Said mehr oder minder sanft aus dem Palast und dem Land heraus ins britische Exil befördert worden war?
Was jedoch seither unter dessen Regie aus dem zuvor feudal-verschlafenen Oman geworden ist, liest sich tatsächlich wie eine Erweckungsgeschichte. Bereits auf dem Weg vom Flughafen in die sich kilometerweit ausstreckende Hauptstadt wird es offenbar: Blumenrabatten statt Sultansbilder, dazu überall schmucke Häuschen, von denen man später erfährt, dass deren schneeweißer Farbanstrich ebenso auf eine Order des Herrschers zurückzuführen ist wie die blitzblanken Autos auf den Straßen des ölreichen Landes - wer in Schmuddelwagen herumfährt, zahlt zehn Euro Strafe. Weshalb aber spüren wir - immerhin hier in einer sogar erklärten Nicht-Demokratie - nirgendwo das Geduckte und Missgestimmte, das aus anderen arabischen Ländern bekannt ist? Weshalb erzählen die Omanis so bereitwillig, dass sie nichts mit den neureichen Vettern aus Dubai oder den eifernden Wahabiten aus Saudi-Arabien zu tun hätten und gern unter ihrem Sultan Qaboos lebten, der mit seinen bald siebzig Jahren noch immer attraktiv wirkt und ein wenig an Paco Rabanne erinnert ("ein überzeugter Junggeselle", was auch immer dies bedeutet)?
Es ist dies eine gelassen-sympathisierende Rede über einen aufgeklärten Autokraten, der den Frauen Rechte gibt, nicht-religiöse Abendschulen für Arme und Ältere einrichten ließ und gerade - ein Liebhaber der Musik Hindemiths - eine Oper bauen lässt. Und wie kann es sein, dass die Chefredakteurin des im noblen Tiefdruck erscheinenden "Oman Daily Observer" eine indische Einwanderin ist, in deren frisch gegründeter Zeitung zwar die Innenpolitik tabu bleibt, arabische Auslandsthemen jedoch in denkbarer moderater Weise präsentiert werden und die übliche Hetze gegen Israel fehlt?
1970 gab es im ganzen Oman (ein Land von beinahe der Fläche der Bundesrepublik) lediglich zwei Krankenhäuser mit 23 Betten, ein paar asphaltierte Straßen rund um den Sultanspalast und Ölfunzeln statt Elektrizität. Heute wird in den Radiostationen des einkommenssteuerfreien Landes freimütig über die Verwendung von Kondomen diskutiert, gibt es - nicht zuletzt für die zahlreichen Arbeitsimmigranten aus Afrika und Südostasien - anonyme und kostenlose HIV-Tests. Aber auch junge Afroamerikaner, die in den USA nach ihrem Studium keine entsprechenden Stellen fanden, sind dem Ruf des Sultans gefolgt und unterrichten die Omanis in Business-Englisch - abends sieht man sie und ihre in knöchellange weiße Gewänder gehüllten, turbantragenden Schüler im strandnahen Café Costa bei Latte Macchiato oder im Gartenrestaurant "Kaargen" bei Limonen-Juice und Wasserpfeife, während nebenan eine Art Frauenclub (die Kopfstücher sind von Hermès) Happy Birthday singt. Und dennoch ruft auch hier der Muezzin fünfmal am Tag zum Gebet...
Was lehrt uns dies, welche steile These über "die arabische Straße" lässt sich daraus ableiten? Genau dies ist der Moment, an welchem der Reisende beschließt, weiterzuziehen und das Feld lieber den Thesenfreudigen zu überlassen.
Marko Martin lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Kürzlich erschien bei Eichborn sein Erzählungsband "Schlafende Hunde".

Source: http://www.welt.de/die-welt/kultur/article6262610/Auf-den-Strassen-Arabiens.html