14.05.2003:
Debatte: "Wer bestimmt den nun den modernen Islam?"
Ein Gastbeitrag zur Debatte von Mohammed el-Abbas

Es ist nicht einfach, Islam zu verstümmeln. In anderen Religionen brauchten "Reformer" nur die Hierarchie zu infiltrieren, um ihre Vorhaben umzusetzen. Im Islam gibt es keine Hierarchie: keine Bischöfe, keine Oberrabbiner, keinen Dalai Lama, nichts. Orthodoxie, wenn dieses im tiefsten Sinne christliche Wort überhaupt von Muslimen verwendet werden kann, wird den Muslimen nicht durch eine Klasse von bezahlten religiösen Bürokraten aufgezwungen. Stattdessen, wird sie von der Übereinkunft (Idschma) der gläubigen Gemeinschaft im Ganzen bestimmt. Diese offensichtlich extreme Form religiöser Demokratie erkennt natürlich gewisse Grenzen an. "Meine Gemeinschaft wird sich nicht auf einen Fehler einigen", versprach der gesegnete Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Dies bedeutet, dass ein Urteil, welches durch diese Übereinkunft zustande gekommen ist, wie und wann auch immer, eines ist, welches durch die Rechtleitung von Allah zustande gekommen ist. Vox populi, vox Die. Und schließlich sind die muslimischen Vorstellungen über religiöse Autorität per Definition am Ende immer aus den offenbarten Quellen des Qur’an und Sunna, bezogen, die interpretiert und neu verstanden werden, um ihre Bedeutung trotz wechselnder sozialer Bedeutungen zu gewährleisten.

Aber innerhalb dieser schriftlichen Parameter gibt es immer viel Raum, der je nach Geschmack mit Streit oder konstruktiver Vielfalt gefüllt werden kann. Der klassische Islam, der, zumindestens in der Theorie, bis in unser heutiges Jahrhundert überlebte, war eher stolz auf diese Art der Vielfalt. Glaubten nicht schließlich die ersten Muslime, dass die Unterschiede unter der Gemeinde der Gelehrten eine Gnade von Allah sind? Hat nicht die Anwesenheit der verschiedenen theologischen und juristischen Schulen die Debatte und die Selbstüberprüfung befördert, wodurch die Gefahr der Stagnation abgewendet wurde?

Es ist wahr, dass Feindschaft zwischen den verschiedenen Deutungen innerhalb des Islam zu gelegentlichen Spannungen geführt hatte und die Regierungen verwirrte, die auf die Erzwingung eines einheitlichen rechtlichen Körpers angewiesen waren. Aber im ganzen funktionierte dieses System und erhielt eine Jahrhunderte dauernde Vielfalt innerhalb der essentiellen und erkennbaren Einheit muslimischen Lebens. Die Ankunft der Moderne hat diese Einrichtung pulverisiert, vielleicht für immer. Als die europäischen Mächte in die muslimischen Länder einwanderten und diese besetzten, zerstörten sie die alten Gerichtshöfe und Schulen und erzwangen Normen und Lehrpläne, die von ihnen stammten. Plötzlichen fanden sich arabische und indische Schüler wieder beim Lernen von Homer und Wordsworth, Voltaire und Adam Smith. In Algerien mussten Kinder bis zur Unabhängigkeit 1961 ein Gedicht auswendig lernen, welches von "Unseren Erben, den Galliern, die blonde Haare hatten" handelte. Diese extreme Verrenkung endete nicht, als die muslimischen Staaten ihre politische Unabhängigkeit erlangten. Die Überbleibsel der alten islamischen Ordnung, wenn sie nicht durch Zwang entfernt wurden, lösten sich auf und wurden umgruppiert. Zumindestens unter der Elite schien diese kulturelle Auslöschung ein voller Erfolgt zu sein. Und doch hatten die Vertreter dieses Massenübertritts, seine säkularen Missionare, Konvertiten und Schulen etwas wichtiges vergessen: Die europäische Seele kann nicht exportiert werden.

Der Triumph westlicher Kultur in Nordamerika und Australien wurde durch die direkte Methode der Tötung der meisten Ureinwohner und ihre Ersetzung durch Europäer erreicht. Dies ließ sich nicht so einfach in der muslimischen Welt bewerkstelligen, von teilweisen Erfolgen in Algerien und Kasachstan abgesehen. Die Einheimischen waren zu viele, die Länder zu heiß, als dass die europäische Einwanderung hätte wirklich funktionieren können. Deshalb gelang es den meisten, ihr Land und ihr Leben zu behalten. Die neuen Herren ließen es zufrieden geschehen, denn sie waren sicher, dass die Demoralisierung und der Niedergang ein einheimischen Kultur zu einem erfolgreichen Übertritt zu den Haltungen und der Lebensart der Kolonisatoren führen würde. Was die Vordenker dieses Vorganges aber vergaßen, war, dass man beim Besitz einer Kultur sowohl deren Gegenwart als auch deren Vergangenheit braucht. Die gegenwärtige konnte angeeignet werden, durch den Besuch eines Schneider und die Entsendung der Kinder an eine moderne Schule. Die europäische Geschichte blieb jedoch Eigentum der Europäer. Daher stammt die Schizophrenie der säkularen Intellektuellen in der muslimischen Welt. Ebenso auch der ansteigende Erfolg der islamischen, der sogenannten fundamentalistischen Alternative.

Denn um ein säkularer und verwestlichter Muslim zu sein, bedeutet, ohne Vergangenheit zu leben. Wie eifrig auch immer eine solche Person ihre Schultern mit den westlichen Vorbilder reiben mag, im Kern bleibt er ein Emporkömmling, der, während seine europäischen Freunde die Produkte einer langen und anhaltenden Evolution sind, die den Lebensstil ihrer Vorfahren in authentischer Verbindung mit ihrem eigenen sehen, ein Konvertit ist, dessen eigenen Vorfahren ein Leben führten, welches ihm entweder unbekannt ist oder unvorstellbar fremd erscheint. Irgendwo in seinem Erbe liegt die Feindeslinie, hinter der sich der Andere befindet. Die Seele eines gebürtigen Europäers, auch wenn ihm seine Vergangenheit egal ist, ist nicht derart zerrissen.

Es hat mehrere Jahrzehnte bei den "deracinated" Intellektuellen der muslimischen Welt gedauert, bis diese begriffen, dass sie am Ende keine Europäer werden konnten. Als diese Erkenntnis heranzog, schien die sanfte Strecke zur Modernität einen scharfe Wendung in Unsicherheit und Chaos zu nehmen. Die frühen Stimmen dieses einheimischen Erwachens waren selber Pseudo-Europäer, die gesehen haben, was der Vorgang des kulturellen Selbstmord eigentlich war: Die Absetzung einer Kultur gepaart mit dem emotional und philosophisch unmöglichen Versuch, diese durch eine andere zu ersetzen. Aber dann kam der/die "rub". Dieses neue Bewusstsein, welches von den Apostaten des europäischen Prozesses kam, war nicht zufrieden mit dem, was es in der traditionellen Religion sah. Es schien zu viel Vielfalt, zu wenig hygienische Verbindung zu geben. Mit der Verstandesschärfe, die sie vom Westen gelernt hatten und angetrieben von einer "giddy" Besessenheit, die sie blind machte für die feineren Aspekte des klassischen Erbes, erklärten viele der Fundamentalisten, dass sie den Islam der Leute furchtbar unordentlich fanden. Warum nicht all diese mittelalterlichen Spinnweben wegfegen und einen strahlenden neuen Islam schaffen, stromlinienförmig und bereit, seinen Platz als eine Ideologie neben Marxismus, Kapitalismus und säkularem Nationalismus einzunehmen?

Damit dieses Ziel erreicht werden konnte dachte man, dass die vier Rechtsschulen gehen müssen. Das gleiche galt für die theologischen Traditionen von Asch’ari und Maturidi. Die sufischen Gemeinschaften schienen oft erstaunlich exotisch und unordentlich, natürlich mussten auch diese ausgemerzt werden. Tatsächlich wurden über neunzig Prozent traditioneller islamischer Literatur dem Schredder übergeben. Von dem was übrig blieb wurde erwartet, dass es der Islam des Propheten sei, frei von unansehlichen "barnacles", der über eine wiedervereinigte muslimische Welt auf dem Weg zu einem neuen und scheinen Schicksal herrschen sollte.

Historiker hätten, wären sie befragt worden, diese eifrigen Aktivisten darauf hingewiesen, dass genau die gleiche Politik von den Eiferern der Reformation in Europa geführt wurde und mit den gleichen unerwünschten Ergebnissen. Die Fragen waren oftmals die gleichen. Das mittelalterliche scholastische Gebäude wurde abgerissen, um von einem Vertrauen auf die Schriften ersetzt zu werden, welches vom eigenen Gewissen gedeutet wurde. Große Gelehrte der Vergangenheit wurden schließlich beerdigt, nachdem sie nicht selten verdammt wurden. Die Idee von den Heiligen, da es dieses im Vokabular der ersten Muslime nicht gab (da sie alle Heilige waren, brauchten sie es nicht), wurde als bedenklich betrachtet. Orte der Anbetung wurden ihre verfeinerten Dekoration entledigt, während der komplexe heilige Symbolismus, der früher der Kunst zu Grunde lag, ein besonders verführerisches Ziel darstellte. Religiöse Feste wurden auf jene begrenzt, die alleinig von der Offenbarung sanktioniert wurden. Gleichermaßen wurden Stadt und Land gleichermaßen ihren lokalen spirituellen Traditionen beraubt und einer Politik der Gleichmacherei unterworfen.

Das Ergebnis dieses Handelns war eine Art spiritueller Unfruchtbarkeit, die den Weg für die Industrielle Revolution und die folgende allgemeine Säkularisierung des europäischen Bewusstseins ebnete. Vorhersehbar hat unser islamischer Protestantismus, wie der von Calvin, Luther und Cromwell in der Praxis zur Teilung geführt anstatt zu Einheit und zu geistiger Armut anstatt zu einer neuen Brillianz. Nicht nur sind die muslimischen Protestanten (die sich ungenau als Salafis bezeichnen) im Streit mit den orthodoxen Gelehrten, sondern sie finden es untereinander unmöglich, sich zu einigen. Allein in Ägypten schätzt man, dass es über siebenhundert Gruppierungen der Salafis gibt, zwischen denen bittere Streitereien und sogar gewaltsame Zusammenstöße zum traurigen Alltag gehören. In Afghanistan hat die Unfähigkeit der wahhabitischen Kämpfer, die Existenz anderer Lesarten des Islam zu dulden, das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt, der am Ende mehr Schaden angerichtet hat als die vorherige Zeit der russischen Besatzung.

Nachdem die vier Rechtsschulen als Neuerungen abgeschafft wurden, bezieht sich jeder protestantischer Muslim direkt auf den Qur’an und die Hadithe, um die Lehren und Handlungen der Religion zu entdecken. Das Ergebnis war vorherzusehen: Anstatt der vier Schulen haben wir heute tausende. Selbst in Europa gibt es muslimische Gruppen, deren Kontakt mit traditioneller Bildung so gering ist, dass sie sich auf Übersetzungen vom Qur’an und der Sunna beziehen, anstatt Experten zu konsultieren oder sich auf gewissenhaft erforschte Werke des Fiqhs und der ’Aqida beziehen. Es wäre sowohl unnötig als auch unhöflich, ihre Namen zu nennen, aber wir sind alle vertraut mit ihrer fanatischen Überzeugung und den bizarren Deutungen, mit denen sie gekommen sind. Dazu zählt auch die seltsame Befriedigung, die sie aus dem Angriff auf all diejenige zu erhalten scheinen, die von ihrer totalitären und ärmlichen Sicht der Religion abweichen.

Es lohnt sich darüber nachzudenken, warum dieser hausgemachte Zugang zur Schari’ah so gefährlich ist. Um direkt aus dem Qur’an Urteile herleiten zu können, muss jemand zuerst einmal das Arabische vollständig beherrschen, denn die Übersetzung des Buches ist niemals wirklich eine Übersetzung – sie übermittelt nur etwas von ihrer Inspiration und des formalen Inhalts. Es ist gleichermaßen notwendig, die sieben verschiedenen Lesarten des Edlen Qur’an zu kennen und zu wissen, welches Verse aufgehoben sind. Ebenso sollte man zumindestens die wichtigsten Kommentare kennen. Als ob dies noch nicht genug ist, so erfordert die Aufgabe, Urteile aus der Sunna herzuleiten, noch viel mehr Genauigkeit. Es gibt sogar im Bukhari und im Muslim Hadithe, von denen bekannt ist, dass sie aufgehoben sind und nicht länger anzuwenden sind, während viele anderen von ihnen nur in Beziehung zu ihrem eigentlichen Kontext verstanden werden können. Und es gibt Unmengen an anerkannten Hadithen, die auf hunderten von Büchern verteilt sind, die nicht übersetzt worden sind.

Darüber hinaus muss man die feinen legalen Mechanismen verstehen, die von den frühen Muslimen anerkannt worden sind, wie die Analogie (Qijas), Übereinkunft, Betrachtung des öffentlichen Interesses, die verschiedenen Arten der Hadithe, usw. Solange jemand all dies nicht kennt, ist man in der augenblicklichen Gefahr, vom richtigen Weg abzugleiten und extreme und abzulehnende Formen der Erneuerung in die Schari’ah einzuführen. Es sollte klar sein, dass die verantwortliche Alternative die Nachfolge einer der vier anerkannten Schulen ist, deren Gründer unendlich kompetenter waren, als die jungen Enthusiasten, wenn sie Regeln der Schari’ah direkt aus den offenbarten Quellen ableiten wollen. In spirituellen Angelegenheit ist es gleichermaßen gefährlich, spirituelle Methoden für uns selbst aus den Quellen ableiten zu wollen, anstatt anzuerkennen, dass wir nicht qualifiziert sind, dies zu tun. Stattdessen sollen wir einen spirituellen Lehrer finden, der selber dem Qur’an und der Sunna folgt. Es gibt nicht gewagteres als den Ozean der Offenbarung durchsegeln zu wollen, ob in Rechtsfragen oder bei geistigen Fragen, wenn man ein Gefährt benutzt, welches selbstgemacht ist und nicht von einem großen Meister. Sie wollen ein Beispiel? Ich war einmal in einer Moschee im Ghetto von Brooklyn, New York, wo ich einer Gruppe von neuen Muslime zuhörte, die aus der Qur’anübersetzung von Yusuf Ali und der Muhsin Khans Übersetzung vom Bukhari zu erkennen suchten, ob es erlaubt sei, Geld aus einem Schnapsladen zu stehlen. Als ich eingriff kam heraus, dass keiner von ihnen von den vier Schulen gehört hatte oder von der Notwendigkeit nach echter Gelehrsamkeit. Die Leser kennen vielleicht weitere Beispiele dieser Art tödlicher Unwissenheit aus eigener Erfahrung.

Die muslimische Welt ist, bei dem Versuch, die Last der säkularen Welt abzuschütteln, in der Gefahr in eine protestantische Verwirrung abzugleiten, die die Einheit für immer zerstören wird, genauso wie die Reformation die Einheit des Christentums zerstörte und Europa in Jahrhunderte wilder Religionskriege gestürzt hatte. Der traditionelle, authentische Islam hat in der Vergangenheit eine Grundlage für Einheit geliefert und funktioniert erwiesenermaßen. Das selbstgemachte Salafi-Modell, ob wir es nun Wahhabismus nennen oder anders, tendiert zur Intoleranz, Unordnung und zu einer Feindseligkeit gegenüber allen Formen intellektuellen und spirituellen Lebens. Ein Haltung, die am Ende Erfolg haben könnte, wo der Kolonialismus gescheitert ist.

http://www.islamische-zeitung.de/cgi-bin/artikel/2996

Claudia