Wider die Vereinfacher: Arabische Philosophie und Islam

Auf den Islam bezogene Themen werden gegenwärtig mit großer Sensibilität behandelt. Man muß sich manchmal hüten, etwas zu äußern, was als islamfeindlich interpretiert werden könnte. Auch das islamische Kulturerbe scheint verstärkt an Interesse zu gewinnen - vielleicht die einzige positive Folge einer bitteren Situation. Aktuelle politische Befangenheiten spielen sogar in Fragen hinein wie die, ob es eigentlich eine arabische oder eine islamische Philosophie gibt. Die unlängst in dieser Zeitung geführte Debatte über die Charakterisierung der Philosophie, die im mittelalterlichen islamischen Kulturkreis auf arabisch existierte, weist auf ein verstärktes Interesse an dieser Philosophie hin (F.A.Z. vom 13. November und die Leserbriefe vom 5. und 30. Dezember 2002).

Wenn man die Sprache als Kriterium nimmt, so ist die Periode der Philosophiegeschichte, die im neunten Jahrhundert in Bagdad begann und mit Averroes (gest. 1198) in Andalusien zu Ende ging, zweifellos als arabisch zu bezeichnen. Das Arabische ist die Sprache, die damals zum Medium philosophischen Denkens entwickelt wurde. Selbst in späteren philosophischen Schriften auf persisch wurden arabische Begriffe und Ausdrucksweisen verwendet. Die Entwicklung des Arabischen zu einer autonomen philosophischen Sprache verdankt sich auch einer umfangreichen Übersetzungsbewegung, die vom achten bis zum zehnten Jahrhundert dauerte. An ihr beteiligten sich vor allem christliche Gelehrte, die die wichtigsten philosophischen Werke der Antike und des Hellenismus ins Arabische übertrugen. Die christlichen Übersetzer, die schon mit dem Aristotelismus vertraut waren, der vor dem Islam im syrischen Kulturraum vorgeherrscht hatte, dürften darüber hinaus die Stoßrichtung der arabischen Philosophie beeinflußt haben, indem sie zu ihrer aristotelischen Prägung beitrugen.

Arabisch war also die Sprache einer ganzen Kultur, an der Übersetzer, Philosophen, Gelehrte und Schriftsteller unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit mitwirkten und mit der sie sich identifizierten. Unabhängig von ihren religiösen Unterschieden gehörten sie alle zu dieser arabischen Kultur, deren Entwicklung sie bewußt vorantrieben. Ein modernes Beispiel kann dies beleuchten. In einer ähnlichen Gesinnung haben sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten und am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts besonders Christen bemüht, die arabische Literatur neu zu beleben und mit neuen Elementen, die aus der Begegnung mit ausländischen Literaturen gewonnen werden konnten, zu bereichern. Die Renaissance der arabischen Literatur wäre ohne sie sicherlich nicht zustande gekommen.

Aus der Feder des in Turkestan geborenen und in Bagdad ausgebildeten Philosophen Alfarabi (870-950) stammt eine Überlegung, die uns über seine eigene Charakterisierung der philosophischen Epoche, in der er wirkte, informiert. Er stellt fest, daß die Philosophie die älteste Wissenschaft sei, sie sei zuerst den Chaldäern bekannt gewesen, dann zu den alten Ägyptern gelangt und danach zu den Griechen; dann sei sie von den Syrern übernommen worden und habe über diese die Araber erreicht. Die Philosophie, so heißt es weiter, sei zuerst in griechischer, später in syrischer und schließlich in arabischer Sprache niedergeschrieben worden. Nach dieser Aussage muß also diese Philosophie mit der von ihr verwendeten Sprache als arabisch bezeichnet werden. Wenn man schließlich bedenkt, daß Alfarabi nicht Araber, sondern "Türke" war, gewinnt das Wort "Araber" in seinem Satz eine weite Bedeutung: Es steht für die Angehörigen einer umfassenden, für ethnische und religiöse Pluralität offenen Kultur im Mittelalter, in der die arabische Sprache ein identitätstiftender Faktor war.

Logik in der Religion

Im Hinblick auf die Bereiche und Themen dieser philosophischen Epoche ist jedoch eine noch weiter differenzierte Charakterisierung nötig. Der Großteil der auf arabisch verfaßten Philosophie im Mittelalter - vor allem Logik, Metaphysik und Ethik - trägt kaum einen unverwechselbar islamischen Charakter, der ihre Bezeichnung als exklusiv islamisch rechtfertigen würde. Im Gegensatz dazu enthalten als religionsphilosophisch geltende Schriften von Averroes wie "Tahafut at-tahafut" (Destruktion der Destruktion) Merkmale, die sie durchaus in Verbindung mit dem Islam bringen und eine Charakterisierung als islamisch zulassen würden. Schließlich ist dieses Buch eine Antwort auf die Kritik des bedeutenden Religionsgelehrten al-Ghazali in "Tahafut al-falasifa" (Destruktion der Philosophen). Die Hauptthemen beider Schriften: ob die Welt ewig oder geschaffen, wie Gottes Erkenntnis beschaffen und ob die Seele unsterblich ist, können durchaus als religiös eingeordnet werden.

Zwei weitere Schriften des Averroes, in denen er untersucht, warum die Religion die Philosophie nicht verbieten, sondern eher gebieten sollte, gehören ebenfalls eindeutig in die Religionsphilosophie. Anders jedoch verhält es sich mit seinen Kommentaren zu den Schriften des Aristoteles. Sie sind eher philosophischer Natur. Man kann des weiteren sagen, daß Alfarabis Werk islamische Ideen enthält, obwohl man in seinen Schriften vergeblich nach einem Koranvers sucht. Avicennas enzyklopädisches Werk "asch-Schifa'" (Die Heilung) umfaßt größtenteils metaphysische Untersuchungen, die kaum einen spezifisch islamischen Charakter besitzen. Andere Schriften von ihm können dagegen durchaus islamisch genannt werden. Als gar nicht islamisch darf man schließlich die Schriften von Philosophen bezeichnen, die zwar auf arabisch schrieben, aber keine Muslime waren und deren Schriften keinen spezifisch islamischen Charakter aufweisen. Dazu zählen Juden, Christen und Atheisten.

Eines jedenfalls muß bei der Behandlung dieser Frage stets beachtet werden: Die Grenzen zwischen Philosophie und Religion im arabischen Mittelalter waren weitgehend durchlässig. Deshalb ist es kaum möglich, beide voneinander scharf zu trennen. Den Themen der Metaphysik galt gleichwohl das Interesse von Philosophen und Theologen. Die Logik, die Averroes als neutrales Mittel der Argumentation definiert, war für das religiöse Denken im Islam von großer Bedeutung, wie die Schriften des großen Theologen Ibn Taymiya (1263-1328) belegen. Die Lektüre der muslimischen Philosophen vermittelt ferner den Eindruck, daß sie sich von ihrer Religion gar nicht distanzieren wollten, sich vielmehr dessen bewußt waren, daß es erhebliche Überschneidungen zwischen Philosophie und Religion gab, mit denen beiden sie vertraut waren.

Alfarabi beansprucht für die Philosophie sogar das Verdienst, zur Klärung von schwierigen theologischen Fragen erheblich beitragen zu können. Diese Auffassung entsprang nicht etwa dem Bedürfnis der Philosophie, sich vor dem Tribunal der Religion zu verteidigen und um Existenzberechtigung nachzusuchen, sondern sie ging aus der Natur der damals betriebenen Philosophie hervor. Ihre wichtigsten Themen, die Existenz einer ersten Ursache des Seins, wie die Welt zustande kam und das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod, sind im gleichen Maße Gegenstand religiöser Lehren. Averroes zieht daraus die allgemeingültige Konsequenz, daß die Muslime keinen Anstoß daran nehmen sollten, die Philosophie der Heiden und Andersgläubigen zu studieren und daraus Nützliches zu übernehmen, denn Philosophie und Religion seien schließlich "Milchschwestern", und das, was in der einen wahr sei, widerspreche dem Wahren in der anderen nicht, sondern lege davon Zeugnis ab.

Christliche Vermittler

Die großen muslimischen Philosophen waren durchaus von der Universalität der Philosophie überzeugt und haben dementsprechend philosophiert. Gerade der universale Charakter ihrer Philosophie ermöglichte im lateinischen Europa deren Übernahme durch christliche Philosophen und Theologen, denen die arabischen Schriften in Übersetzungen durch vorwiegend arabischsprachige Juden vorlagen. Wie die Blüte der Philosophie und der Wissenschaften im muslimischen Reich nicht ohne den Beitrag christlicher Kulturvermittler zustande gekommen wäre, dürfte deren Rezeption in Europa, die in einem langen Gärungsprozeß zur Entstehung der Renaissance und der Aufklärung beitrug, ohne die Vermittlung von Christen und besonders von Juden ebenfalls nicht möglich gewesen sein.

Anhänger der drei monotheistischen Religionen beteiligten sich an der Gestaltung der verschiedenen Facetten der arabischen Kultur, deren Zentrum das Bagdad der Abbasiden war und die auch nach dessen Niedergang weiterhin von Andalusien über Persien bis in den indischen Subkontinent ausstrahlte. Das Ergebnis dieser umfangreichen Wechselwirkung von Akteuren unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit mit der Philosophie islamisch zu nennen wäre eine grobe Vereinfachung. Die starke islamische Prägung dieser Kultur zu verkleinern oder zu übersehen wäre Verblendung. Man muß vielmehr von einer umfassenden arabischen Kultur im Mittelalter sprechen, deren überwältigender Geist durchaus islamisch war und die drei einander wechselseitig befruchtende und jeweils von den drei monotheistischen Religionen geprägte Kreise umfaßt. Dementsprechend gibt es neben der umfangreicheren arabisch-islamischen Philosophie eine arabisch-christliche Philosophie, mit dem Protagonisten Yahya Ibn'Adi, und eine arabisch-jüdische Philosophie, die in Maimonides ihren Hauptvertreter findet.

Beide Charaktere, der arabische und der islamische, stehen wohl in engem Verhältnis zueinander, dürfen aber keineswegs miteinander verwechselt oder identifiziert werden. Wie es nichtarabische Muslime gibt, gibt es auch nichtmuslimische Araber. Diese verstehen sich zwar als Teil der besonders vom Islam geprägten Kultur, ihre unterschiedliche religiöse Identität drückt sich jedoch auch in ihren kulturellen Leistungen aus, die immer noch die arabische Kultur nicht unerheblich bereichern. Eine angemessene Charakterisierung dieser Kultur muß diese Tatsache ernst nehmen. Die Verwischung von Spuren Andersgläubiger widerspricht dem Bild eines kulturell aufgeschlossenen, den Forderungen der Moderne gerechten Islam und dient nicht dem Interesse der Muslime, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Situation muslimischer Gesellschaften, sowohl arabischer wie nichtarabischer, ist eine intensivere Beschäftigung mit ihrem Kulturerbe von großem Nutzen.

GEORGES TAMER

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.2003, Nr. 48 / Seite N3