Sind Mann und Frau vor Allah gleich?
erschienen am: 11. 11. 2001

Für die Rechte und Pflichten von Frauen hat fast jeder der 55 muslimischen Staaten seine eigenen Regeln. Doch kaum einer erfüllt das religiöse Gebot der Gleichberechtigung
Von Sylvia Rizvi
Sag zu deinen Gattinnen und Töchtern und zu den Frauen der Gläubigen, sie sollen, wenn sie aus dem Haus gehen, ihre Tücher tief über sich ziehen. So ist am ehesten gewährleistet, dass sie als ehrwürdige Frauen erkannt und nicht belästigt werden." So steht es im Koran (Sure 33). Sind muslimische Frauen also verpflichtet, Schleier oder Kopftuch zu tragen?

Eindeutige Aussagen treffen die heiligen Schriften des Islam jedenfalls nicht. Es handelt sich allenfalls um Empfehlungen, die weiblichen Reize zu bedecken. Diese Empfehlungen werden aber je nach Land unterschiedlich ausgelegt. Zudem hängen sie von regionalen Traditionen und politischen Umständen ab.

So verschieden die Deutungen des Schleiers sind, so verschieden sind auch die Rechte der Frauen in muslimischen Ländern. Der Islam entstand im 7. Jahrhundert durch den Religionsstifter Mohammed und gründet auf dem Koran und der Sunna. Die Sunna ist eine Sammlung von Berichten ("Hadithen") über die Handlungen und Aussprüche des Propheten. Sie sollen die Gebote des Koran für den Alltag erläutern. Aus diesen heiligen Quellen ist die Scharia - das islamische Recht - abgeleitet. Wie die Scharia im Alltag ausgelegt wird, bestimmen islamische Rechtsschulen. Oft kommen die Muslime sunnitischer Glaubensrichtung zu anderen Ergebnissen als die Schiiten. Zudem sind die Scharia-Gesetze je nach Region durch ethnische Unterschiede, gewachsene außerislamische Traditionen und Regierungsziele beeinflusst. Die Folge: Jeder der 55 islamischen Staaten hat eigene Regeln.

Selbst orthodoxe Muslime leiten aus der 33. Sure selten eine Pflicht ab, das Gesicht zu verschleiern. Manche Gläubige fordern eine Bedeckung der Haare, andere lediglich eine "anständige" Kleidung, wonach nur ein tiefes Dekolletee sowie nackte Arme und Beine tabu wären.

Es gibt 1,3 Milliarden Muslime auf der Welt. Viele kommen aus Ländern, in denen der Schleier keineswegs Sitte ist. Fremd ist der orientalische Schleier etwa den Senegalesinnen oder anderen muslimischen Westafrikanerinnen. Tradition hat der Schleier dagegen in der Mittelmeer-Region und auf der Arabischen Halbinsel. In Mekka trugen Bürgerinnen schon zu vorislamischen Zeiten einen Schleier als Zeichen ihrer Vornehmheit.

Schleier-Vielfalt herrscht in Pakistan. In Karatschi, der größten pakistanischen Stadt, sind afghanische Burqas, schwarze oder weiße Tschadors, die man aus dem Iran kennt, sowie die landesüblichen farbenfrohen Dhupattas zu sehen. Die Städterinnen tragen diese lose um den Kopf gelegten Schleier aus erlesenen Stoffen zum Salvar Kameez - das sind luftige Hosen mit einer langen, taillierten Hemdbluse. Mit Dhupattas schmücken sich auch die oft mit dem Sari gewandeten Frauen und Töchter der indischen Einwanderer seit 1947. Manchmal ist vom klassischen Schleier nur noch ein um den Hals getragener Seidenschal als Versatzstück übrig. Der aber muss sein, andernfalls wäre eine Frau aus Sicht der Pakistanis nicht ehrbar gekleidet.

Wie unterschiedlich der Koran ausgelegt werden kann, zeigt der muslimische Nachbarstaat Afghanistan. Während es in Pakistan keinerlei Verhüllungsgesetz gibt, haben die Taliban ihren Bürgerinnen per Verdikt die traditionelle Burqa übergestülpt. Vor der Machtübernahme wurde der Ganzkörperschleier mit Sichtgitter freiwillig getragen. Heute werden Frauen von der Religionsmiliz verprügelt, wenn nur ihre Fußknöchel unter der Burqa hervorlugen oder ihre Absätze klappern. Für die afghanische Ärztin Sima Samar, Leiterin der Hilfsorganisation Shuhada, ist das kein Gebot der Religion, sondern blanker Terror: "Die Taliban wollen vor allem die intellektuellen Frauen in den Städten erniedrigen." Frauen vom Stamm der Paschtunen arbeiteten auf den Feldern schon immer unverschleiert. Und die Religionsmiliz lässt sie auch heute noch unbehelligt.

In der Türkei sieht es grundsätzlich anders aus: Kemal Atatürk brachte das Land am Bosporus ab 1923 auf westlichen Kurs. Er verbannte Schleier, Kopftücher und Turbane aus seinem Staat. Heute ist die weibliche Kopfbedeckung weniger verfemt. Verboten sind Kopftücher aber in Universitäten, Parlamenten, Schulen oder Behörden. Kein Verständnis dafür zeigen in den letzten Jahren junge intellektuelle Muslimas. Sie fühlen sich durch das Verbot diskriminiert.

Nicht nur beim Kopftuch, auch beim Familienrecht sind sich Fachleute einig, dass die islamischen Schriften keine eindeutige Handhabe liefern. Im Iran droht Ehebrecherinnen die Steinigung. Aus den Schriften lässt sich herauslesen, dass ein Mann bis zu vier Frauen heiraten darf. Tunesien dagegen verbietet sogar mit Verweis auf den Koran die Polygamie. Die Begründung: Ein Muslim muss nach seiner Religion gerecht sein. Wie aber soll das gehen, wenn selbst Sure 4 sagt, ein Ehemann könne nie alle seine Frauen gleich behandeln?

Das islamische Recht der Scharia gilt mehr oder weniger streng in den meisten islamischen Staaten - zum Nachteil der Frauen. Nach dem Scharia-Familienrecht ist es die weibliche Bestimmung, Hausfrau und Mutter zu sein. Weil ein Mann die Pflicht hat, seine Familie zu versorgen, bekommt er das größere Erbteil. Auch darf er seiner Gattin eine Berufstätigkeit verbieten. Er kann sich ohne viel Federlesens scheiden lassen, die Frau dagegen muss ernste Gründe beweisen - etwa dass ihr Gatte unfruchtbar ist oder nicht für seine Familie sorgt. Auch vor Gericht sind die Geschlechter nicht gleich: Die Zeugenaussage einer Frau ist nur halb so viel wert wie die eines Mannes.

Für den Propheten Mohammed waren Mann und Frau Zwillingsgeschöpfe Gottes. "Gleichheit vor Gott heißt aber nicht Gleichberechtigung in der Gesellschaft", sagt Sabine Hensel von der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes. "Historisch gesehen, hat der Islam zwar Frauen aufgewertet." Vor Mohammeds Zeit seien sie etwa überhaupt nicht erbberechtigt gewesen, und weibliche Säuglinge wurden häufig getötet. "Heute aber", erklärt Hensel, "zementiert das Festhalten an der Scharia längst überholte Rollen.

Vollständig abgeschafft ist die Scharia in der Türkei. Atatürk ersetzte sie 1926 durch das Schweizer Zivilrecht. Polygamie war fortan verboten, Frauen konnten sich ohne Nachteile scheiden lassen und das Sorgerecht für die Kinder erhalten. Im Erbrecht und vor Gericht waren sie Männern gleichgestellt. Die Eheschließung wurde an die Zustimmung der Braut gebunden.

Beim Thema Bildung für Mädchen und Frauen herrscht weitgehend Einigkeit zwischen den verschiedenen islamischen Staaten. Das Streben nach Wissen sei eine heilige Pflicht für jeden Muslim, Mann und Frau, sagt ein Sunna-Spruch. Daran hält sich die Türkei ebenso wie Pakistan. Nicht einmal die Taliban, die bei ihrer Machtübernahme alle Mädchenschulen geschlossen haben, leugnen das offiziell. Faktisch aber sind die Mädchenschulen seither geschlossen. Die Hilfsorganisation Shuhada nimmt das nicht tatenlos hin: Weil die Religionsmiliz nicht überall sein kann, unterrichtet sie trotz des Verbots in 16 Schulen Mädchen. Es ist kein Zufall, dass die Schülerinnen vor allem in abgelegenen Gegenden wie Hazarajat die Schulbank drücken. Dort haben die Taliban weniger Macht als in ihren Hochburgen um Kandahar oder Kabul. Und die Dorf-Mullahs, die der schiitischen Minderheit angehören, schlugen sich auf die Seite von Shuhada. Sie überzeugten den Dorf-Taliban, dass die Schule nicht unislamisch sei, dass sie von den Eltern der Mädchen gewünscht werde und dass sie überdies die Regierung keinen Pfennig koste. Die Schule blieb geöffnet, allerdings unter einer Bedingung: Immer wenn hochrangige Taliban aus der Stadt kamen, wurden die Tore drei Tage geschlossen.

Die Autorin ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitete für die Organisation Terre des Femmes

Typologie des Schleiers

Die bekannteste Form des Körperschleiers aus dem Iran ist der Tschador. Er fällt vom Kopf bis zum Boden und wird mit den Händen gehalten. Als Straßen-Tschador ist er meist schwarz, als Gebets-Tschador auch in hellen Farben oder gemustert. Die Extremform des Körperschleiers ist die Burqa. Sie wird vor allem in Afghanistan, Pakistan und Teilen Indiens getragen. Umhang und Schleier werden von einem kappenartigen Kopfteil gehalten, in das ein Netzeinsatz für die Augen eingearbeitet ist. Der Niqab ist ein Gesichtsschleier, der fast in der ganzen islamischen Welt getragen wird. Er bedeckt in der Regel das ganze Gesicht und lässt nur die Augen frei. Weit verbreitet ist schließlich das gewöhnliche Kopftuch, auch Hijab genannt. Es wird so gebunden, dass zwar das Gesicht frei bleibt, aber kein Kopfhaar erkennbar ist.

http://www.welt.de/daten/2001/11/11/1111pg294916.htx