22.10.2003:
Göttingen: Europas Brücke in den Orient blieb erhalten
Zum Tod von Alija Izetbegovic ein Nachruf von Tilman Zülch

Vor einigen Tage habe ich am Krankenbett von Alija Izetbegovic gestanden und ein letztes Mal mit ihm gesprochen. Wie immer konzentrierte er sich auf seine Besucher, dankte uns für die Arbeit der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), insbesondere den Mitarbeitern der Sektionen und Büros in Göttingen, Sarajevo und in Srebrenica für ihre Arbeit für die Mütterbewegung der Stadt, für die verelendeten, vergessenen Rückkehrer. Heute, am Tag der Beerdigung von Izetbegovic, und gestern überflogen wir die große Zahl er Nachrufe. Da war nicht nur Matthias Rüb in der FAZ, der „den unbestrittenen Führer der eingeschlossenen Vertriebenen, der von aller Welt verlassenen bosnischen Muslime“ ehrte und sein „Bekenntnis zu einem europäisch geprägten, einem toleranten und offenen Islam sowie zu einem bürgerlichen Rechtsstaat Bosnien-Herzegowina“ hervorhob.

Vier Jahre lang hat das freie Europa, haben zumindest seine Regierungen, die Mehrheiten seiner politischen und intellektuellen Eliten dem Sterben des bosniakischen Volkes tatenlos zugesehen. Sie haben den Genozid tabuisiert, über die Opfer ein Waffenembargo verhängt, jahrelang mit Tätern verhandelt. Erstmals seit 1945 wurden wir in Europa wieder Zeuge der versuchten Auslöschung einer nichtchristlichen ethnisch-religiösen Gemeinschaft. 200.000 bosnische Zivilisten kamen ums Leben, unter ihnen mindestens 90 % Muslime. Allein in Srebrenica vernichteten serbische Einsatzgruppen im Jahr 1995 8.000 „Männer“ über 13 Jahren. Die Stadt Sarajevo beklagt 11.500 Opfer, darunter 1.500 Kinder. Allein das Totenbuch der kleinen westbosnischen Stadt Prijedor enthält bereits 3227 Namen seiner ermordeten Bürger.

Doch statt Klagen über das Versagen Europas, das vielen Bosniern das Leben kostete, lesen und hören wir in zahlreichen Nachrufen über die islamische Intervention, über islamischen Fundamentalismus und hunderte Moscheen, die von Saudiarabien aufgebaut wurden. Dabei war die Solidarität islamischer Regierungen mit Bosnien kläglich genug.

Doch Srebrenica gilt als schlimmstes europäisches Massaker seit Holocaust und Gulag. In en Haag muss sich Slobodan Milosevic vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal verantworten. Andere Täter wurden wegen Genozid und Angriffskrieg verurteilt. Trotzdem scheut die westliche Gemeinschaft, scheuen so viele westliche Kommentatoren noch immer das Wort Völkermord - trotz der eindeutigen Urteile des Tribunals, trotz der endlosen Reihe der geöffneten Massengräber der zehntausenden exhumierten Opfer.

Auf Seiten der Täter fanden wir nicht nur europäische Regierungen in Paris und London, sondern fast geschlossen die gesamte Führung der serbisch-orthodoxen Kirche neben Diktatoren wie Saddam Hussein und Muammar El Kahdafi.

Die Reichspogromnacht, die Zerstörung der Synagogen ist in unserem Bewusstsein zu Recht ständig präsent, nicht aber die völlige Vernichtung sämtlicher 1.183 Moscheen im serbisch besetzten Bosnien, von ungezählten muslimischen Friedhöfen und Kulturdenkmälern, nicht die Konzentrationslager, in denen wohl mehrere zehntausende Menschen ermordet wurden, nicht die Vergewaltigungslager, die über Monate betrieben wurden. Sie sind ebenso vergessen wie deren traumatisierte Häftlinge oder die Mütter von Srebrenica.

Dass die Aggression Serbien-Montenegros, aber auch fast ein ganzes Jahr lang die Aggression Kroatiens scheiterte, dass dem Völkermord Einhalt geboten, dass die Vertreibung der Bosniaken nicht vollendet wurde, ist nicht Europas Verdienst. Geführt von Alija Izetbegovic, haben die eingeschlossenen und von der westlichen Welt verlassenen Einwohner Sarajevos, hat die bosniakische Bevölkerung in vielen Regionen und Enklaven so lange durchgehalten, bis Hilfe von der Regierung Clinton kam. Die Vereinigten Staaten haben den Krieg 1995 beendet. Doch das Unrecht dauert an, solange hunderttausende Vertriebene nicht zurückkehren dürfen und noch immer einige der Haupttäter auf freiem Fuß sind.

Izetbegovic war weder Militär noch professioneller Politiker. Aber er hat das Wunder vollbracht: Bosnien-Herzegowina und mit ihm auch seine tolerante muslimische Tradition und Kultur blieben erhalten als Europas Brücke in die islamische Welt. So war es sicher kein Zufall, dass nur weniger Wochen vor dem Tod von Izetbegovic die weltberühmte Brücke von Mostar wieder aufgebaut worden ist.