11.12.2004:
Debatte: Islam, Globalisierung, Terrorismus
Murad Hofmann behandelt in seinem Gastvortrag in Potsdam einige kontroverse Themen

Im Namen Gottes, den die Muslime Allah nennen, des Gütigen und des Barmherzigen. Der Friede Gottes sei auf unserem Propheten und auf ihnen allen.

Als ich zuletzt hier war, das war am 13. Juli 2002, hielt ich einen Vortrag über das Fasten. Das war ein religiöses Thema, wie es sich für einen religiösen Menschen in einem religiösen Raum wie hier schickt. Inzwischen hat sich jedoch die Politisierung all dessen, was mit Islam zusammenhängt, so beschleunigt, das Gleichsetzen von Muslim mit Islamist und mit Terrorist, dass auch unser heutiges Thema ein politisches ist. Nun mag man sich dagegen sträuben, dass sich die Muslime ihre Agenda sozusagen von außen aufdrängen lassen. Aber in der gegenwärtigen Sicherheitshysterie, die in Deutschland ausgebrochen ist, bleibt nun wirklich nur der Versuch, pauschalen Verdächtigungen offen und gradlinig entgegenzutreten. Und so habe ich mich denn bereit erklärt über Globalisierung und Terror und Islam und den Zusammenhang, den es möglicherweise zwischen all dem gibt, zu sprechen, ohne allerdings anzuerkennen, dass es einen solchen Zusammenhang gibt. Das wollen wir ja gerade untersuchen.

Wenn Muslime über Globalisierung sprechen, geschieht dies meist missbilligend, so als sei Globalisierung speziell gegen den Islam gerichtet, als eine ausnahmslos schädliche Verschwörung. Globalisierung ist indessen nichts Neuartiges, sondern hat es immer und überall gegeben. Wohl dokumentiert ist zum Beispiel die Hellenisierung des Römischen Reiches mit griechischer Religion, Philosophie, Naturwissenschaft, Kunst - ja mit Sprache. Mit seiner Gräcisierung passierte Rom damals, was uns heute mit unserer Amerikanisierung passiert. Und das passierte den Römern ausgerechnet vom Jahre 156 vor unserer Zeitrechnung an, nachdem sie Korinth erobert hatten. Der militärische Eroberer wurde also seinerseits kulturell erobert, mit späteren Auswirkungen auf das ganze, immer stärker lateinisch bestimmte Europa. Eine Spätfolge dieser Globalisierung Europas war zum Beispiel, dass ich für meine Doktorarbeit in Jura noch das Große Latinum brauchte und mein bayerisches Staatsstipendium in einer Prüfung über Römisches Recht verteidigen musste.

Ähnliches passierte übrigens den Mongolen zu Anfang des zweiten Jahrtausends. Kaum hatten sie die islamische Welt überrannt und waren bis nach Ägypten gekommen, islamisierten sie sich, wurden Muslime und nahmen den Islam auch kulturell an. Ich las mal in einer Zeitschrift der NPD, die "Deutsche Stimme" heißt, dass man doch von "Ausländerrückführung" statt von "Integration" sprechen sollte und "Nein zur Islamisierung" und "Nein zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Union". Diese Leute übersehen offenbar wie viele in Mitteleuropa, dass die Deutschen schon längst vom Orient globalisiert worden sind, nämlich vom Christentum. In der Form in der das von Paulus und von Augustinus geformte nahöstliche Christentum hier ankam, stellte es ein synkretistisches Amalgam aus orientalischen Gedankengängen ägyptischer und iranischer Herkunft dar; darunter jüdische, neoplatonische, gnostische und manichäische Vorstellungen, sowie Riten aus dem in den römischen Legionen so populären Mithraskult.

Doch die Globalisierung Europas ging weiter, als es sich vom Frühmittelalter an bis zur Renaissance für die arabische Transmission der alten griechschen Philosophie und der modernen arabischen, islamischen Naturwissenhaften öffnete, über Sizilien wie über Andalusien. Diese grandiose Geschichte der Arabisierung Europas ist schon oft erzählt worden und die Muslime sind sehr stolz auf diese Geschichte, ohne eigenes Verdienst natürlich. So wie viele sehr stolz sind ohne eigenes Verdienst auf ihre Fußballnationalmannschaft. Es genüge daher in Erinnerung zu rufen, dass Europa dank seiner arabischen Nachbarn die aristotelische Philosophie, die arabische Medizin, Biologie, Chemie und Landwirtschaft, sowie generell wissenschaftlichen Empirismus kennen lernte, ja erst dann das indisch-arabische Zahlensystem, einschließlich der Ziffer Null, ohne die wir heute nicht digitalisieren könnten. Ohne die als Averroismus bekannt gewordene rationalistische Philosophie des Andalusiers Ibn Rushd wäre der konkrete Verlauf von Renaissance mit ihren Auswirkungen bis auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht realisierbar gewesen.Genauso reizvoll ist es nachzuzeichnen, in welch hohem Maße die Vereinigten Staaten von Nordamerika ein Produkt der Globalisierung europäischer Provenienz sind. Angefangen mit dem Sektenunwesen, ja sogar der Hexenverfolgung und Hexenverbrennung in Massachusetts! Beispiele genug für die Feststellung, dass die gesamte Weltgeschichte als eine Geschichte der Globalisierung begriffen werden muss.

Ein zweites Missverständnis betrifft den Charakter der Globaliserung, wenn man sie versteht als einen gelenkten Vorgang. Als säßen da eine kleinen Gruppe von Männlein, darunter Bill Gates und Steve Jobs, in einem Hinterzimmer und schmiedeten einen Globaliserungsmasterplan. Denn wenn Globaliserung überhaupt einem Gesetz folgt, dann den Marktgesetzen und naturwissenschaftlichen Konstanten, wonach billigere und bessere Produkte teurere und schlechtere verdrängen, genauso wie Wasser automatisch von oben nach unten läuft. Das macht die Folgen der Globaliserung, der wirtschaftlich-technologischen Globalisierung, nicht geringer oder akzeptabler, aber es befreit uns, hoffe ich, von einem uns lähmenden falschen Verschwörungsdenken. Hinter dem ersten Personal Computer stand als stärkstes Motiv nichts anderes als der Spieltrieb.

Oft wird übersehen, dass Globaliserung auch eine intra-westliche, also eine innerwestliche Angelegenheit ist. Wenn Franzosen heute Anglizismen in Werbung und Musik sogar verbieten, oder wenn die Rede von MacDonaldisation ist, sehen wir eine europäische Gegenreaktion im Spiel, die sogar zu defensivem Partikularismus führt, wie z. B. in Wales oder auf Korsika oder in Flandern oder im Baskenland. Dahinter steckt Angst um Verlust von Identität, wie sie sich auch in den Protestveranstaltungen von attac gegen Weltbank und Weltwährungsfond niederschlägt. Wenn dieses Gefühl der Belagerung in Wut umschlägt, haben wir einen ersten Zusammenhang zwischen Globalisierung und Terrorismus.

Ein drittes Missverständnis betrifft den Umfang und damit auch die generelle Richtung der Globaliserung. Wenn man, wie meist, unter Globaliserung nur die Verbreitung eines wirtschaftlich-technologischen Phänomens sieht, ist seine heutige Richtung klar: Sie verläuft von Norden nach Süden und von Westen nach Osten. Wenn man hingegen unter Globalisierung ein auch die Kultur umfassendes Phänomen versteht, sieht es anders aus. Dann begreift man, dass Globaliserung keine Einbahnstraße ist, sondern eine two-way-street. Das gilt bereits für die im Westen ablaufende Globalisierung. Viele von ihnen tragen Jeans und Sneakers, essen Hamburger, trinken Coca Cola, rauchen Marlboro Cigarettes - Gott sei's geklagt - schicken sich Mails und Short Messages, während sie sich ständig mit Pop oder Heavy Metal im Ohr auf ihren MBA vorbereiten, den Gameboy in der Hand und dabei auf amerikanischen Imperialismus schimpfen. Meine These ist, dass keiner dieser von Vielen übernommenen Amerikanismen auf amerikanischer wirtschaftlich-technologischer Überlegenheit beruhen, sondern auf einer zivilisatorischen Dominanz. Und dies erklärt denn auch, dass der Islam, mitten in der ihn einseitig treffenden wirtschaftlichen Globalisierung, imstande ist, erstaunliche Fortschritte mitten im Westen zu machen. Schließlich ist auch die Migration von Millionen von Muslimen von Ost nach West und von Süd nach Nord, einschließlich Couscous und Döner Kebap, ein Stück Gegenglobaliserung. So wie es die ständig wachsende Präsenz des Islam im Internet ist; und wie es palästinensische Professoren an amerikanischen Universitäten und indo-pakistanische Whiz-Kids mit ihren Green Cards bei uns sind. Man mache sich also klar, dass der Islam, obwohl er sich von Anfang an als eine universelle Religion für die gesamte Menschheit verstand, erst in den letzten fünfzig Jahren de facto universell geworden ist.

Schon seit 1400 Jahren lasen die Muslime in der 21. und in der 34. Sure, dass zu Muhammad, salallahu alaihi wa sallam, gesagt wurde: "Und Wir entsandten dich fürwahr als eine Barmherzigkeit für die ganze Welt" (Vers 107), sowie: "Doch Wir haben dich zur gesamten Menschheit nur als Freudenboten und Warner gesandt." Doch erst heute gibt es als Folge der Globalisierung 15 Millionen Muslime allein in Westeuropa und 8 Millionen in den Vereinigten Staaten. Im britischen House of Lords gibt es bereits vier Muslime, zwei Männer und zwei Frauen. Das französische Staatsfernsehen sendet jeden Sonntag Vormittag eine Stunde ein islamisches Programm. In Wien werden Imame und islamische Religionslehrer an einer staatlichen Schule ausgebildet. Und in Deutschland gibt es immerhin schon eine Islamische Zeitung, die man auch schon am Kiosk erwischen kann. Heute ist jeder zehnte Mediziner in den Vereinigten Staaten ein Muslim, jeder zehnte Mediziner in Amerika ist ein Muslim! In Greggor/Detroit ist der Leiter der islamischen Gemeinde einer der wenigen weltbekannten Neuro-Chirurgen, Gehirnchirurgen - Ghuss Malik.

Trotzdem will ich Globalisierung nicht verniedlichen. Es ist in der Tat beunruhigend, dass heutzutage sämtliche naturwissenschaftlichen Fortschritte im Westen erzielt werden. Von Mikro- und Makrophysik, über Astronomie, Neurochirurgie, bis hin zur Nanotechnologie. Alle richtungsweisenden Geister der letzten zweieinhalb Jahrhunderte kamen ausschließlich aus dem Westen. Ich erwähne nur Immanuel Kant, Georg Friedrich Hegel, Auguste Comte, Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Charles Darwin, Friedrich Nietzsche, Siegmund Freud, Max Weber, Max Planck, Albert Einstein, Gottlob Frege, Werner Heisenberg, Ludwig Wittgenstein etc., etc.. Dieser Umstand ist für Menschen aus der sogenannten Dritten Welt, darunter die Muslime, entwürdigend. Es wirkt wie eine zweite Welle der Kolonisierung, die zudem weitaus totaler umgestaltet als die erste Kolonisierung.

Und damit berühren wir einen zweiten Zusammenhang von Globalisierung und Terrorismus: Entwürdigung trifft den Menschen in seinem Kern. Als Napoleon kurzzeitig Kairo besetzte, und als die Briten längerfristig in Indien regierten, berührte dies das tägliche Leben der Muslime ganz wenig - ihr forum internum blieb unangetastet. Heute penetriert die westliche Lebensform schier alles, bis ins Schlafzimmer, zumal in Form von pornografischen Fernsehprogrammen. Symptomatisch war dafür, als ich während meiner letzten Großen Pilgerfahrt im Januar/Februar dieses Jahres erlebte, dass ein Pilger in meiner Nachbarschaft während des Tawaf auf seinem Handy angerufen wurde. Ich konnte es nicht glauben. Und ich sagte mir, "Gehört denn eine Handytasche jetzt schon zum Ihram?" Auch vom Berg Arafat sah ich, dass Pilger zu Hause anriefen: "Ich bin auf Arafat!" Das sind erschütternde, kleine, aber vielsagende Symptome dessen, was sich da abspielt. Diese Entwicklung ist um so gravierender, als sich die heutige Globalisierung von allen früheren Globalisierungen auch durch ihre unheimliche Geschwindigkeit unterscheidet. Was heute in ist, ist morgen out. Das spielt sich sogar in den Wissenschaften ab: In den letzten drei Jahren lehrten Astronomen erstens, dass das Weltall kontraktiert und dass es eines Tages zu einem Big Crunch kommt, und dann lehrten sie, "Nein, nein. Das Weltall dehnt sich ständig aus." Dann kam eine dritte Lehrmeinung, "Nein, nein, manchmal ist es schneller, manchmal langsamer in seiner Ausdehnung." Das in den Wissenschaften. Dank Internet und E-mail können sich nicht nur Nachrichten und Ideen, sondern auch Kapitalflüsse in real-time um den Erdball bewegen. Dabei scheint nur noch die Logik des Marktes zur Gewinnoptimierung zu zählen, für das Menschliche kein Platz mehr zu sein. Fortschritt und Reichtum wachsen gleichzeitig mit Armut und Ungleichheit, und große Teile der Menschheit fühlen sich zunehmend marginalisiert. Damit haben wir wieder einen Zusammenhang zwischen Globalisierung und möglichen Terrorreaktionen.

Noch John Maynard Keynes hatte geglaubt, in einer fortgeschrittenen Volkswirtschaft werde der Mensch die Freiheit gewinnen, sich von den traditionellen wirtschaftlichen Imperativen zu lösen, um sich auf ein würdiges Leben in Weisheit, Wohlstand und Zufriedenheit zu konzentrieren. Das war in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Vielmehr leidet die Menschheit heute, wie von Mahatma Gandhi vorausgesehen, zunehmend unter "sieben sozialen Sünden", dazu gehören: Politik ohne Prinzipien, Wirtschaft ohne Moral, Reichtum ohne Arbeit, Erziehung ohne Charakterbildung, Vergnügen ohne Gewissen und Glaube ohne Hingabe. Soweit Mahatma Gandhi. Eine Folge dieser Entwicklung ist es, dass viele Menschen das Gefühl haben, den Boden unter den Füßen zu verlieren, fremdbestimmt auf einer Reise ins Nichts zu sein - kurzum, unter die Räder zu geraten, in einem nicht mehr durchschaubaren System. Konsequenz daraus ist eine dumpfe Angst, die ebenfalls in Aggression umschlagen kann, und damit hätten wir eine vierte Verbindung zwischen Globalisierung und Terrorismus.

Ich bin allerdings der Ansicht, dass Armut, Rückständigkeit und Marginalisierung alleine in der Regel nicht zu Terrorismus führen, jedenfalls solange nicht das Gefühl von Ungerechtigkeit hinzutritt. Ohne diesen Funken leben Menschen über Jahrhunderte mit ihrem Schicksal, irgendwie verstört, aber versöhnt, ohne zu rebellieren. So kam es und kommt es zu Aufständen meist erst dann, wenn es einer Bevölkerung objektiv besser geht als früher, sobald sie dann subjektiv in der Lage ist Anstoß zu nehmen, weil sie z.B. gelernt hat, sich als "Proletariat" zu empfinden. Überhaupt setzt rebellische Führerschaft einen gehobenen Lebensstandard einfach voraus. Das lässt sich anhand der Lebensläufe der Protagonisten der französischen Revolution gut nachweisen. Auch Marx, Engels und Lenin nagten nicht am Hungertuch - sowenig wie Fidel Castro, und sowenig wie die Attentäter des 11. September. Sie stammten nicht aus den Slums von Kairo oder aus der Kasbah von Algier und auch nicht aus den Elendsvierteln von Karachi, sondern aus begüterten Familien. Ich möchte daher als Haupttriebfeder für Gewaltbereitschaft, auch von Muslimen, den Finger auf das Gefühl legen, Opfer zu sein. Opfer von Ungerechtigkeit, Opfer von Demütigung. Ich bin tief davon überzeugt, dass es Terroranschläge durch Muslime weder in Algerien noch in Tschetschenien noch in Kaschmir noch in Palästina gäbe, wenn man den Muslimen dort nicht Tag für Tag himmelschreiendes Unrecht antun würde. Dagegen mag man einwenden, dass ein Muslim, der Terrorakte begeht, gar kein Muslim sei - doch so einfach können wir Brüder im Glauben nicht loswerden. Denn der Qur'an verbietet uns, jemandem das Muslim-Sein abzusprechen, der sich selbst für einen Muslim hält. Auch ein katholischer Terrorist in Nordirland bleibt Katholik. Allerdings ist es für Muslime wichtig, zwischen der soziologischen Ursachenermittlung von Terrorakten - das, was ich bisher getan habe - und ihrer theologischen Rechtfertigung zu unterscheiden.

Qur'an und Sunna lassen Gewaltanwendung nur in zwei Fällen zu: als Verteidigung gegen einen Angriff von außen und zweitens als Widerstand gegen ein despotisches Unregime von innen, Typ Graf Stauffenberg. Nach dieser mit westlichem Völkerrecht völlig übereinstimmenden Regelung der Zulässigkeit der Eröffnung von Feindseligkeiten, ius ad bellum, regeln Qur'an und Sunna auch das ius in bello, das humanitäre Kriegsvölkerrecht, nicht das "ob", sondern das "wie" der Kriegsführung. Danach ist es z.B. untersagt, Unbeteiligte, Frauen, Kinder, Priester, Mönche zu töten; einen Wirtschaftskrieg zu führen, z.B. durch Abhacken von Palmen oder Olivenbäumen, oder heute, die Zerstörung von Ölfeldern; Kirchen, Synagogen oder Tempel zu zerstören. Kritisch ist dabei die Definition des Nichtkombattanten. Wer ist denn ein Nichtkombattant? Denn al-Qaida geht offenbar davon aus, dass alle Amerikaner Kriegspartei sind, weil die amerikanische Regierung den ungerechten Krieg Israels gegen die Palästinenser finanziert, durch Waffenlieferungen unterstützt und im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen deckt. Entsprechend gehen die Palästinenser davon aus, dass alle Israelis, die sich in den illegal besetzten Gebieten befinden - Westbank und Gazastreifen - Kombattanten sind, einschließlich Frauen und Kinder. Wenn man dem folgt, hebelt man den qur'anischen Schutz von Nichtkombattanten ebenso aus, wie die Alliierten dies mit ihrem Bombenterror gegen deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg auch getan haben. Ähnliches gilt für die Verteidigung mittels Selbstmordattentaten, denn der Qur'an untersagt in der vierten Sura, Vers 29 den Selbstmord, und zwar ohne Einschränkung. In Übereinstimmung damit, dass wir, die wir uns das Leben nicht selbst gegeben haben, uns das Leben auch nicht selbst nehmen dürfen, weil wir sonst gegen unseren Schöpfer rebellieren würden. Auch gegen diese Auffassung gibt es allerdings gewichtige Stimmen, z.B. seitens des Schaykh Yusuf al-Qaradawi und auch des Schaykh al-Azhar. Diese argumentieren allerdings mehr praktisch als theologisch, indem sie die Waffenungleichheit zwischen Israelis und Palästinensern unterstreichen und sagen, den Palästinensern bleibe entweder der Selbstmordanschlag oder die Kapitulation. Ich bestreite dies: Meines Erachtens gibt es einen Unterschied zwischen der legitimen Bereitschaft, ein praktisch aussichtsloses Himmelfahrtskommando zu unternehmen, eine ganz gefährliche Operation zu unternehmen, oder ein als aussichtslos gewolltes Selbstmordattentat auszuführen. Im ersteren Fall stellt der Kämpfer sein Überleben in Gottes Hand. Im zweiten Fall rechnet er nicht mit seinem Überleben und nimmt sein Leben in die eigene Hand. Mit diesem theologisch-juristischen Urteil möchte ich jedoch kein moralisches Urteil über Palästinenser fällen, die für eine gerechte Sache das höchste, was sie haben, nämlich ihr Leben, aus Verzweiflung opfern. Allahu Ta'ala alleine wird wissen, was sie dafür verdienen. Jedenfalls, wer den Islam dafür verantwortlich macht, und von Widerstandskämpfern als "Islamisten" spricht, lenkt von den wahren, nicht-religiösen Ursachen ab. Und indem ich jemand als "Islamisten" bezeichne, erspare ich mir, mit ihm zu sprechen über die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ursachen seines Handelns, verschiebe es einfach auf die religiöse Ebene und habe damit leichtes Spiel.

Wir können gegen Terrorismus aus muslimischer Hand zweierlei unternehmen. Erstens: Wir müssen gegen die Wurzeln der ihn auslösenden Konflikte vorgehen, indem wir für Palästina, Tschetschenien, Kaschmir, Algerien Gerechtigkeit einfordern und gegen das ständige Messen mit zweierlei Maß protestieren. Gleichzeitig müssen wir auch intern klarstellen, dass der Islam keinen blinden Terror, sondern nur Verteidigung nach engen Regeln erlaubt. Der Islam ist keine pazifistische, aber eine das Kriegsrecht stützende Religion.

Und was können wir gegen die Globalisierung unternehmen, die bis zum Terror führen kann? Wir müssen als erstes lernen, mit westlicher Technologie selektiv umzugehen, statt ihr Sklave zu werden oder sogar handy- und internetsüchtig. Wenn unsere Kinder online zu Autisten werden, ist es unsere eigene Schuld. Allerdings ist der Versuch, unsere Kinder vor den Versuchungen der technologischen Globalisierung physisch fernzuhalten unsinnig. Vielmehr müssen wir versuchen, sie durch intelligenten Umgang mit all diesen Gadgets zu immunisieren. Das ähnelt dem Problem, die eigene Tochter vor dem Umgang mit "bösen Buben" zu schützen, die unser Haus wie hungrige Wölfe umschleichen. Einsperren hilft da bekanntlich erfahrungsgemäß nicht. Vielmehr kommt es darauf an, unsere Kinder adäquat auf diese Umwelt vorzubereiten. So kann man sie einigermaßen drogenfest machen, indem man mit ihnen möglichst viele Situationen durchspricht, in die sie geraten könnten, wie wenn jemand ihnen einen "Joint" anbietet und dann sagt, "Du Feigling, du traust dich ja nicht, wir machen das alle."

Längerfristig ist den Gefahren der Globalisierung nur beizukommen, wenn die Erziehung in der muslimischen Welt umfassend reformiert wird, vom Nachplappern und Auswendiglernen von Nichtrelevantem zur Anerziehung von Skepsis und eigenständigem Denken. Wir mögen dabei viele Muslime verlieren, aber der Rest wird dem Islam dafür um so besser dienen, und wir werden endlich mehr als nur einen einzigen muslimischen Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften haben. Am schwierigsten wird es sein, sich gegen die areligiösen Unterstellungen der westlichen Technologie zu wehren, gegen die von der Technologie transportierte materialistische Botschaft, dass es in dieser Welt nur um Konsum und Vergnügen, genannt "Spaß" gehe - in dieser Hinsicht besteht unsere Hoffnung in einer erschreckend entchristlichten Welt, vor allem in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften. Bekanntlich hat sich der Okzident aus dem anti-klerikalen, aufgeklärten, aber doch deistisch gebliebenen 18. Jahrhundert über das agnostische bis atheistische 19. Jahrhundert und das ideologische 20. Jahrhundert naturwissenschaftlich so weiterentwickelt, dass wir heute vor einer Rückkehr von Geist und Religion stehen. Viele haben das noch nicht bemerkt. So orientiert sich der türkische Kemalismus z.B. am materialistischen 19. Jahrhundert und die türkischen Verbände wie die "Nurcu" und "Süleymancılar" bekämpfen immer noch das vorletzte Jahrhundert. Dabei sind wir doch längst in einem Jahrhundert angekommen, in dem Wissenschaftlern die Materie abhanden zu kommen scheint - nicht der Geist. Nicht nur Planck, Einstein und Heisenberg waren gläubige Menschen, ja, auf ihre Art Mystiker. Die Theoreme vieler heutiger Wissenschaftler basieren auf purem Glauben. Ob ich mit "Schwarzen Löchern" oder "Negativer Energie" oder mit neun bis elf Dimensionen arbeite - alles läuft darauf hinaus, dass ich vor der Intelligenz des Universums wieder zu staunen gelernt habe und wieder mit Hypothesen arbeite, die man genauso gut "Gott" oder "Allah" nennen könnte. Dies müssen wir uns bewusst machen, damit die Ummah versteht, dass ihr Glauben an einen transzendenten und zugleich immanenten, über alle Erklärungsversuche erhabenen Gott keinesfalls rückständig, sondern ungemein fortschrittlich ist.

Warum sollten wir uns schämen, dort zu bleiben, wo Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein schließlich wieder angekommen waren: im Glauben an eine höhere Realität. Wittgenstein kam zu der Erkenntnis, dass man schweigen müsse, worüber man nicht reden könne. Doch wir können darüber reden, dank der göttlichen Offenbarung in dem Qur'an. Lassen wir uns daran nicht irre machen, trotz Globalisierung, und trotz Terror.

Herzlichen Dank für's Zuhören!

http://www.islamische-zeitung.de/cgi-bin/artikel/5302