Hmm - das Wort "Mentalität" begegnet mir hier jeden Tag mehrmals, während es in Deutschland absoluten Seltenheitswert hat. Ich erlaube es mir darum einmal, die Definition der Wikipedia zu zitieren:

...Mentalität (lat Mens, Geist) bezeichnet vorherrschende Denk- und Verhaltensmuster innerhalb einer Gruppe von Menschen (z. B. einer Bevölkerungsgruppe eines Landes oder einer Berufsgruppe). So kann eine solche Gruppe z. B. insgesamt eher aufgeschlossen, misstrauisch, bodenständig etc. sein. Die Wahrnehmung dieser Denkmuster durch Außenstehende ist oft Anlass für Verallgemeinerungen, die sich in Klischees, Vorurteilen und Stereotypen ausdrücken. Andererseits kann der Begriff Mentalität auch als Grundlage für ein Normverhalten in gesellschaftlichen Gruppierungen verwendet werden. Daher ist es oft sinnvoll auf den Bedeutungsunterschied zwischen Mentalität und Ideologie zu achten....

Und ich denke, daß besonders der letzte Satz wichtig ist, denn vieles von dem, was hier (in Tunesien) als "Mentalität" bezeichnet wird, sehe ich eher als "Ideologie", nämlich als einen Satz von Anschauungen, die einen Anspruch auf Wahrhheit erheben, und die sich vielfach von der Religion herleiten - das Wort "bigott" fällt mir dazu automatisch ein.

Doch zurück zum eigentlichen Thema - ich denke, daß es zum einen wichtig ist, wo der Lebensmittelpunkt liegt (ob man also in Europa oder in Tunesien lebt) und zum zweiten, ob man dort, wo man lebt, soziale Normen oder Religionen als Leitgedanken für sein eigenes Leben akzeptiert (oder in anderen Worten, ob man auf der Gesellschaft "schwimmen", oder in sie eintauchen will).
Ich halte es für unerläßlich, solche Fragen so früh als möglich in einer Beziehung abzuklären (und das, wenn es nötig ist, auch streitig) und nicht den Kopf in den Sand zu stecken und zu denken, daß die aus dieser Quelle absehbar enstehenden späteren Probleme weggehen, wenn man sie nur ignoriert. Wie ich schon an anderer Stelle schrieb - die Verliebtheit wird nach einiger Zeit in den Hintergrund treten und danach zählen dann Gewöhnung, Achtung, und andere Tugenden, doch zu diesem Zeitpunkt sind dann "die Karten" schon gemischt, und Positionen, die man aus Gefühl oder falsch verstandener Liberalität einmal aufgeben hatte, wird man nicht mehr zurückerobern können. Insgesamt steigt dann aber auch die Gefahr, daß man sich in ein permanentes Rückzugsgefecht verstricken könnte, also wegen einer ohnehin schwachen Position weitere Zugeständnisse machen muß, um nicht "alle vorherigen Bemühungen zu gefährden". Das alles hört sich zwar über-sachlich an, aber man sollte Mechanismen, die fast automatisch ablaufen und folgen werden, nicht unterschätzen und vor allem nicht gänzlich ignorieren.
Die oben genannte "falsch verstandene Liberalität" halte ich sogar für eine ganz gewaltige Fußangel, denn nach meiner eigenen Erfahrung, unterscheiden sich die Kulturen in diesem Punkt erheblich. Zufällig habe ich in den letzten Tagen mit einigen Tunesiern, die 15 und mehr Jahre in Europa lebten und nun wieder in Tunesien sind, dieses Thema diskutiert, weil ich mich vergewissern wollte, ob ich eine selektive Wahrnehmung habe, oder mein Eindruck der Wirklichkeit entspricht.
Wir sind es aus Europa gewohnt, daß man in Punkten nachgeben kann oder dem anderen sogar freiwillige Angebote offeriert, ohne daß dies sogleich als Schwäche, Anbiederung oder Einladung ausgelegt wird, so wurden wir erzogen und so sehen wir es im täglichen Leben.
Ganz anders in Tunesien, wo es dies theoretisch wegen des Gleichheitsgebotes gerade nicht geben sollte, doch die Praxis sieht eben anders aus. Es ist leicht, in eine Situation zu kommen, wo man den kleinen Finger bieten und dann um seinen Arm kämpfen muß, es ist durchaus nicht unüblich, daß man sich großzügig oder liberal zeigt, und die andere Seite sogleich austestet, wo die Grenzen liegen. Wer selbstsicher und nachdrücklich auftritt, hat einen klaren Vorteil gegenüber dem, der sich zurückhaltend und nachgiebig zeigt.

Ich sage nicht, daß dies schlecht ist - in unserem Kulturkreis würde es als negativ angesehen, doch unser Kulturkreis ist ja auch nicht der Weisheit letzter Schluß, der Zwang zur Einigkeit und Friedlichkeit wäre z.B. im Darwinistischen System dem Erkämpfen und Halten von Positionen unterlegen, und je nach gesellschaftlicher Umgebung und ökonomischen Notwendigkeiten ist das eine oder das andere System geeigneter.

Was ich sage, ist, daß man sich der Unterschiede bewußt sein und sie in seine Überlegungen einbeziehen sollte - und die "Spielregeln" kennt, nach denen die andere Seite spielt, und die, qua unterschiedlichen Kulturbasis, nicht identisch mit den eigenen sind und die man nicht beherrscht oder kennt, weil einfach die Phase der Sozialisierung fehlt (man ist ja in seinem eigenen Lande aufgewachsen und kennt die gesellschaftlichen Regeln und Erwartungen in allen ihren Feinheiten nur von dort).
Wir hatten uns vor einigen Tagen im Chat auch mal über Kommunikationskodizes unterhalten, Handbewegungen, Laute, Körpersignale, und davon gibt es in Tunesien genug - alles dies erlernt der Mensch beim Aufwachsen in seiner Kultur und für den Außenstehenden sind die nur sehr schwer und langwierig zu verstehen und erlernen, gleichfalls aber haben sie eine enorme Bedeutung und dienen der gegenseitigen Identifikation von Mitgliedern einer Kultur (was ja z.B. auch ein Grund dafür ist, daß man in der Fremde gerne mit Landsleuten zusammensitzt, die die gleiche "Sprache" sprechen).

Oh je, jetzt bin ich wieder abgeschweift, aber ich hoffe, daß ich darstellen konnte, welche Hindernisse und Probleme auftreten können und durchaus diskussions- und einigungsbedürftig sind - wobei es selbst bei der Einigung das eine oder andere zu beachten gilt... :-)