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Präsident Ben Ali führt sein Land mit harter Hand, vor allem aus Furcht vor den Islamisten

Von Michael Slackman

Tunis - Die Männer schlagen zu, mit ihren großen Händen packen sie zu und stoßen beiseite. Es sind mindestens ein Dutzend Männer, und sie stürzen sich auf alles, was ihnen in die Quere kommt. Andere bedrohen eine Gruppe von Frauen, indem sie auf einem Auto Flaschen zerschlagen. Die Angreifer weisen sich nicht aus, aber wie in weiten Teilen der arabischen Welt ist das auch hier nicht nötig. Man erkennt sie nicht so sehr an ihrer Kleidung, sondern an ihrer Einstellung: Diese Männer können tun, was sie wollen, wann immer ihnen danach ist. Es sind Polizisten. In diesem Fall hat die Regierung sie geschickt, um eine Gruppe von Menschenrechtsaktivisten davon abzuhalten, für die Freilassung von politischen Gefangenen zu demonstrieren.

"Tunesien stellt sich als Musterschüler der internationalen Gemeinschaft dar", sagt Omar Mestiri, Gründer der verbotenen Menschenrechtsgruppe, der seit dem Tumult mit einem Bluterguss unter dem Auge herumläuft. "In wirtschaftlichen Belangen sind wir progressiv, und es wird gesagt, dass man an den Menschenrechten arbeitet. Das ist die Fassade. Innerlich ist es ein Polizeistaat."

Tunesiens Präsident, Zine Abidine Ben Ali, versprach Reformen, als er 1987 in einem unblutigen Staatsstreich an die Macht kam. Und tatsächlich: Er erlaubte oppositionelle Presse, entließ einige politische Gefangene, schaffte sogar den Posten des Präsidenten auf Lebenszeit ab. Doch man muss nur einmal eilig irgendeine Gasse in der Hauptstadt hinunterlaufen um zu erleben, wie es ist, wenn einem Beamte folgen. Das soll einschüchtern und die Herrschenden an der Macht halten. Und im letzten Monat setzte der Präsident eine Verfassungsänderung durch, die ihm die Präsidentschaft auf Lebenszeit ermöglicht.

Die Regierung reagiert empört, als Polizeistaat bezeichnet zu werden, doch viele Tunesier sprechen von einem Regime, das auf Einschüchterung beruht, um alle, nicht nur die Islamisten, unter Kontrolle zu halten. Wenn sich jemand offen gegen das Regime ausspricht, kann es sein, dass seine Mutter schikaniert wird. Wenn jemand einer verbotenen Organisation beitritt, könnten seine Kinder von der Schule fliegen. Es könnte sein, dass einem die Telefonleitung gekappt wird, dass das Auto gestohlen oder Büros durchwühlt werden.

So genannte moderate Regimes wie Ägypten und Tunesien haben mit strikten Sicherheitsmaßnahmen erfolgreich den Einfluss islamistisch orientierter Oppositionsgruppen auf ein Mindestmaß reduziert. In Tunesien sagen Regierungskritiker, dass dieses harte Vorgehen aus einer gemäßigten islamistischen Bewegung mit begrenzter Unterstützung eine radikale Untergrundgruppierung mit weit verbreiteten Sympathien gemacht hat. Sie sagen, dass der Selbstmordanschlag auf die alte Synagoge auf Djerba ein Zeichen für eine solche Gegenreaktion ist. Bei der Explosion am 11. April starben 19 Menschen, 14 davon waren Deutsche. Das Al-Qaida-Netzwerk Osama Bin Ladens wird mit dem Verbrechen in Verbindung verbracht.

Mokhtar Yehyaoui, ein tunesischer Richter, der aus der Richterschaft ausgeschlossen wurde, weil er auf seiner richterlichen Unabhängigkeit beharrte, sagt: "Der Mangel an Demokratie, das Fehlen einer politischen Entwicklung und das Fehlen einer pluralistischen Gesellschaft wird dazu führen, dass die meisten Oppositionellen zu den Islamisten gehen. Die Religion ist das einzige Werkzeug, das die Gesellschaft vereint. Die Leere ist es, die alle zum Islam treibt - als letztem Ausweg." Radiha Nasraoui, eine führende Anwältin für Menschenrechte und Ehefrau eines inhaftierten Oppositionsführers, gehört zu einer politischen Klasse, die das harte Vorgehen gegen die Islamisten ursprünglich unterstützte. Es waren Leute, die eine Demokratie westlicher Prägung wollten, die Europa als Vorbild betrachteten, nicht die arabischen Nachbarn.

Sihem Ben Sedrine, eine Aktivistin, die wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte geschlagen, schikaniert und verhaftet wurde, sagt: "Was uns klar wurde, war, dass Ben Ali nicht nur die Islamisten niederschlug. Er zerschlug auch die Demokratie und die Gesellschaft." Heute drängen Ben Sedrine, Nasraoui und andere darauf, dass es den Islamisten erlaubt wird, am politischen Leben teilzuhaben, und dass alle 1000 politischen Gefangenen, von denen der Großteil Islamisten sind, amnestiert werden. Sie unterstützen nicht die Ziele der Islamisten, aber sie unterstützen ihr Recht, diese Ziele zu verfolgen.

Nasraoui und ihre Kollegen in der Demokratiebewegung wollten das Procedere diskutieren, das es Ben Ali erlauben würde, wieder gewählt zu werden. Daher versammelten sie sich zwei Tage vor der Abstimmung vom 26. Mai. Als sie am vereinbarten Treffpunkt ankamen, stand dort eine Gruppe von Männern in einem Knäuel zusammengedrängt. Sie starrten jeden an, der hineinging. Und sie verfolgten einige Teilnehmer, als diese nach der Veranstaltung nach Hause gingen. Zwei Tage nachdem sich Nasraoui und ihre Kollegen getroffen hatten, öffneten sich für drei Millionen wahlberechtigte Tunesier die Wahllokale. Als ein Beamter gefragt wurde, wie bald man mit Ergebnissen rechnen könne, antwortete er: "Offiziell erwarten wir eine Zustimmung."

Die Regierung wünschte eine rege Beteiligung in der Hoffnung, dem Präsidenten eine Legitimation für das Verbleiben im Amt geben zu können. Doch auf den Straßen herrschte Gleichgültigkeit. An diesem Tag blieben die Wahllokale in mehreren Städten leer. Ein westlicher Diplomat sagte, dass er eine Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent erwarte. Doch als alles vorbei war, titelte die Zeitung "La Presse": "Ein riesiges Ja". Die Regierung berichtete von einer Wahlbeteiligung von 96,15 Prozent - und 99,61 Prozent Ja-Stimmen. Dieses Ergebnis, so Innenminister Hedi M'henni bei einer Pressekonferenz, "überrascht nur die, die Tunesien nicht kennen".

© L. A. Times

Tourismus eingebrochen

Seit dem Anschlag auf die Synagoge von Djerba hat Tunesien einen Einbruch bei den Urlauberzahlen von fast 40 Prozent zu verzeichnen. Das sagte der Vorsitzende des Tourismusausschusses im Bundestag, Ernst Hinsken (CDU). Im vergangenen Jahr hätten eine Million deutsche Urlauber das Land besucht. Nach einem Gespräch mit dem tunesischen Außenminister Habib Ben Yahia betonte Hinsken, Tunesien und Ägypten seien wieder sichere Reiseländer. Das Auswärtige Amt hält das Sicherheitsrisiko in Tunesien jedoch weiter für erhöht. Beim Reisehinweis für das Land wird explizit auf den Anschlag von Djerba und anschließende anonyme Drohungen verwiesen. DW