«Zu viele sehen weg»
Mittwoch 19. April 2006, 18:27 Uhr

Potsdam (ddp). Blumen und Teelichter schmücken am Mittwoch den Tatort in Potsdam. Die Stelle in der Zeppelinstraße, an dem der 37-jährige Deutsch-Äthiopier Ermyas M. am Ostersonntag von zwei vermutlich recht***tremen Tätern ins Koma geprügelt wurde, haben Passanten geschmückt. Auf einem Schild steht: «Rassismus ist eine Schande für Deutschland.» Das Opfer schwebt auch drei Tage nach der Tat in Lebensgefahr. Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) spricht von einer neuen Stufe recht***tremistischer Gewalt.

Sonja und Carola sehen das anders. Die beiden jungen Frauen sind Mitglieder des Opferhilfevereins «Jugend engagiert in Potsdam» (JeP). Aus ihrer Sicht ist der Anschlag auf den gebürtigen Afrikaner nur der vorläufige Höhepunkt einer Reihe rassistischer Übergriffe. Die Landeshauptstadt habe «ernste Probleme» mit Recht***tremismus und Fremdenfeindlichkeit, sagen sie. Opfer rechter Schläger seien neben Ausländern auch linke Jugendliche. Allein im vergangenen Jahr habe ihr Verein 27 entsprechende Angriffe rechter Gewalttäter registriert.
JeP kümmert sich um die Opfer. Die Vereinsmitglieder betreuen sie von der Anzeigenerstattung bis zum Prozess, vermitteln die Betroffenen an Anwälte und Psychologen. Zudem setzt der Verein auf Prävention. Die Mitglieder gehen in Schulen und Jugendklubs, arbeiten in der Sicherheitskonferenz und im Beirat für Toleranz der Stadt mit. Im Juni wird der Verein vom Berlin-Brandenburger Bündnis der Vernunft gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit mit dem «Band für Mut und Verständigung» ausgezeichnet. Wenigstens eine Anerkennung für JeP.

Denn wichtiger wäre ihnen mehr Unterstützung aus der Bevölkerung. Die 27-jährige Sonja betont, dass Recht***tremismus kein Randphänomen sei, sondern wie Rassismus mitten in der Gesellschaft vorkomme. Potsdam sei zwar auch durch eine starke linke Szene für das Thema sensibilisiert. Doch werde viel zu wenig getan, um recht***tremes Denken zu bekämpfen.

Zudem mangele es vielen Menschen an Zivilcourage. So manchem Opfer hätte viel Leid erspart werden können, wenn Zeugen eingeschritten wären. Doch viele Menschen seien nicht einmal bereit, als Zeuge vor Gericht auszusagen. «Zu viele sehen weg», lautet das Urteil der Aktivistinnen.

Doch auch so manches Opfer scheue den Weg zur Polizei und zum Gericht, berichten Sonja und Carola. «Da gibt es Betroffene, die einfach Angst vor einer erneuten Begegnung mit den Tätern haben.» Und manche Jugendliche aus der autonomen Szene lehnten eine Zusammenarbeit mit der Polizei aus Prinzip ab und schlügen lieber zurück.

Das wollen die Mitglieder von JeP verhindern. Gewalt dürfe nicht mit Gegengewalt beantwortet werden. Es komme vielmehr darauf an, die rechten Schläger vor Gericht zu bringen. So seien erst kürzlich in einem Prozess wichtige Drahtzieher der Szene nach Anschlägen auf Linke zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden.

Problematisch ist aus Sicht von Carola auch das neue Auftreten der Rechten. Sie seien kaum noch von «normalen Leuten» zu unterscheiden und kleideten sich ganz unauffällig. Außerdem seien immer mehr Frauen in der Szene aktiv. Und die Potsdamer Szene ist mit Extremisten in Berlin vernetzt. «Da steckt Strategie dahinter», warnt die 26-Jährige.

JeP beobachte das mit Sorge, will aber Opfern rechter Gewalt weiter Mut machen. Der Familie des schwer verletzten gebürtigen Äthiopiers hat der Verein bereits seine Hilfe angeboten. Einen der Blumensträuße haben Sonja und Carola an die Tramhaltestelle gelegt. Im Krankenhaus haben sie eine Karte mit Genesungswünschen hinterlassen. Am Abend soll es in Potsdam eine Mahnwache für Ermyas geben.

(ddp) Yahoo.de