Die Wir-nehmen-euch-mit-Schule

Arundhati Roys Kampf gegen Weltbank und Kreuzfahrer. von stefan ripplinger
Wir haben die Linksradikalen gehört, die sich über die Attentate des 11. September freuten, wenn auch vielleicht ein Flieger genügt hätte, ihren Blutdurst zu stillen, Klaus Theweleit, für den »der Anschlag auf diesen Doppelphallus, banal gesagt, ein Tritt in die Eier« (taz, 19. September 2001), und Horst Mahler, für den er »rechtens« war, Jürgen Todenhöfer, der gegen die »uneingeschränkte Unterwürfigkeit« (Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 2002) der Deutschen protestierte, wir haben Willi Winkler gehört, Jürgen W. Möllemann, Karlheinz Stockhausens neueste Musik, die Marxisten, die, wenn sie nicht in dieselbe guckten, immerzu von der Röhre redeten, die sehr vielen, für die die Amerikaner, und die vielen, für die die Israelis die eigentlichen Terroristen sind. Nun fehlte noch ein Buch, das alle diese gefühllosen Äußerungen möglichst gefühlvoll zusammenfasst. Es ist vor ein paar Tagen im Bertelsmann Taschenbuch Verlag erschienen und heißt »Die Politik der Macht« (»Power Politics«), geschrieben hat es Arundhati Roy.

Roy war erst Architektin, dann Aerobic-Trainerin, Drehbuch-Schreiberin und Romancière, bevor sie endlich zur Rolle eines weiblichen Noam Chomsky herabsank. »Mein Instinkt hieß mich Joyce und Nabokov zur Seite legen und die Lektüre von Don DeLillos großem Buch auf später verschieben.« Ihr Instinkt trog sie nicht; sie ließ sich die Haare schneiden, demonstrierte vor Baustellen, watete durch Flüsse, flog um die Welt, gab Interviews gegen den indischen Staat, die Weltbank und die Atombombe, schrieb Essays über inhumane Staudämme und wurde, ohnehin schon weltberühmt, dadurch immer noch berühmter. Der endgültige Dammbruch gelang ihr am 28. September 2001.

An diesem Tag veröffentlichte die FAZ unter dem Titel »Wut ist der Schlüssel« ihr antiamerikanisches Pamphlet »The Algebra of Infinite Justice« (Jungle World, 43/01); einen Tag später folgte der Guardian. Auf einmal lasen sie auch Leute, die andernfalls nicht nur die Lektüre von DeLillos, sondern auch die von Roys Büchern auf den St. Nimmerleinstag verschoben hätten. In Deutschland entstand wie so oft eine jener unheimlichen Koalitionen, die von Globalisierungsgegnern und Graswurzel-Anarchisten über PDS-Kabarettisten und Stoiber-Anhänger bis zu Neuen Rechten reichen und einen daran zweifeln lassen, es lohnte, Unterschiede zu machen.

Ursache für die allgemeine Sympathie ist wohl Roys gefällige Auslegung der Formel »Sowas kommt von sowas«: »Die Anschläge vom 11. September waren die monströse Visitenkarte einer aus den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft könnte, wer weiß, von Ussama bin Laden stammen und von seinen Kurieren übermittelt worden sein, aber sie könnte durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der Opfer von Amerikas alten Kriegen. Die Millionen Toten in Korea, Vietnam und Kambodscha, die 17 500 Tote, als Israel (mit Unterstützung Amerikas) 1982 im Libanon einmarschierte, die zehntausende Iraker, die bei der Operation Wüstensturm starben, die tausende Palästinenser, die im Kampf gegen die israelische Besetzung des Westjordanlandes den Tod fanden.« (Grammatik im Original)

Roy hat die Ermordung von Tausenden Menschen öffentlich nicht gutgeheißen, aber ihre Vorstellung, dass am 11. September neben anderen die Geister der toten Palästinenser, apokalyptischen Reitern gleich, zurückgekehrt wären, stimmt mit der Ussama bin Ladens genau überein, der den Heiligen Krieg gegen die USA bereits im Mai 1997 damit begründete, dass die Vereinigten Staaten »durch ihre Unterstützung der israelischen Besetzung von Palästina extrem ungerechte, scheußliche, verbrecherische Taten begangen« hätten, und am 28. September 2001, als er noch bestritt, der Rädelsführer zu sein, betonte, was seit elf Monaten in Palästina geschehe, genüge vollauf, »Gottes Zorn auf die USA und Israel herabzurufen«.

Es haben eben nicht alle Opfer der USA bin Ladens Visitenkarte unterschrieben. Salil Tripathi bemerkte, es sei auffällig, dass die Vietnamesen, die doch gewiss unter den Amerikanern am meisten zu leiden hatten, keine Rachepläne schmiedeten. »Kein Vietnamese heckte, wenn der Tag erwacht, einen Anschlag aus, der auf ein Bürogebäude zielt.« (Asian Wall Street Journal, 5. Oktober 2001) Als sie dazu gezwungen waren, haben sich die Vietnamesen tapfer verteidigt. Grausame Taten zu begehen, um einen Gott zu beeindrucken, ist ihnen hingegen fremd. Doch an sie haben weder die Täter des 11. September noch deren Sympathisanten ernsthaft gedacht. Auch Roy nicht.

Nicht ohne Grund zeiht sie die USA gerade der Tötung von Palästinensern und ignoriert das Schicksal der Israelis und Juden ostentativ. In »Krieg ist Frieden« (zuerst im Outlook Magazine, 29. Oktober 2001) führt sie unter vielen anderen dieses Beispiel für die Arroganz der US-Amerikaner an: »Der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani schickte das Geschenk eines saudischen Prinzen über zehn Millionen Dollar zurück, weil ein kleiner freundlicher Rat zur amerikanischen Nahostpolitik beilag. Ist Stolz ein Luxus, der nur den Reichen zusteht?«

Stolz? Ein kleiner freundlicher Rat? In einer Fußnote verweist die Autorin auf einen Artikel der New York Times vom 12. Oktober 2001. Dort wird Ihre Exzellenz Prinz Alwaleed bin Talal bin Abdul Aziz Alsaud mit dem kleinen freundlichen Rat zitiert, es sei endlich nötig, »die Gründe beim Namen zu nennen, die zu einem solchen verbrecherischen Anschlag führten. Ich glaube, die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika sollten ihre Nahostpolitik überprüfen und eine ausgeglichene Haltung zur palästinensischen Sache einnehmen. (...) Unsere palästinensischen Brüder werden von israelischer Hand abgeschlachtet, während ihnen die Welt die kalte Schulter zeigt.« An anderer Stelle (Middle East Insight 1/2002) führt er bin Ladens Beliebtheit auf »Amerikas Rückendeckung für Israel« zurück. Sein modest proposal also: Die USA möchten Israel im Stich lassen.

Roy holt noch weiter aus. Für sie sind die USA nicht nur die Ursache des Terrors, sie sind der Terror, und der 11. September sei ihnen gerade recht gekommen, um noch mehr Terror über die Welt zu bringen. »Es ist absurd, wenn die amerikanische Regierung auch nur mit dem Gedanken spielt, der Terrorismus ließe sich mit noch mehr Gewalt und Unterdrückung ausmerzen.« (»Ausmerzen« setzte der kongeniale FAZ-Übersetzer für »stamp out«.) Aber in Wahrheit spiele sie gar nicht mit dem Gedanken. »Es geht ja nicht um Gut gegen Böse oder um Islam gegen Christentum, sondern um Raum.« Wenn es aber nicht um Raum ginge, ginge es um die Produktion von Waffen, denn die Waffenhändler sind ja mit der US-Regierung verbandelt. Und ginge es nicht um die Produktion von Waffen, »wäre da noch jener andere Zweig der traditionellen Familiengeschäfte, das Öl«. Auch Roy kennt die Röhre.

So genannte wahre Gründe gibt es immer genug. Nur die Opfer des 11. September, die israelischen Opfer, die Opfer des Taliban-Regimes sind in jedem Fall die falschen. Die gekidnappten Flugzeuge krachten in die »Symbole der wirtschaftlichen und militärischen Macht Amerikas«; dass ein paar »Investmentbanker« dabei ihr Leben ließen, ist nach den »unvorstellbaren Genoziden«, die auf das Konto der internationalen Völkermordzentrale gehen, kaum der Rede wert. Obwohl Roy vorgibt, sie kenne die Attentäter nicht, lässt sie die Durchschnittsamerikaner doch wissen, »dass der Hass nicht ihnen gilt, sondern der Politik ihrer Regierung« - und natürlich dem Finanzkapital. Dabei hatte Ussama bin Laden im Januar 1999 eine Fatwa erlassen gegen »jeden Amerikaner, der Steuern an seine Regierung zahlt. Er ist unser Ziel, weil er die amerikanische Kriegsmaschine gegen die muslimische Nation am Laufen hält.«

Im Interview mit der Jungen Freiheit (12. Oktober 2001) erlaubt sich Roy, bin Laden einen Schritt näher zu treten: »Auch frage ich mich, wie die USA den Tod von 500 000 Kindern durch die Sanktionen im Irak rechtfertigen können. Dann heißt es, die Menschen sind verantwortlich für ihre Regierung. Allerdings: Sind dann die Menschen in einer Demokratie nicht erst recht verantwortlich für ihre Regierung?«

Auf die Frage der Jungen Freiheit, ob es dann am 11. September 6 000 politisch schuldige Menschen getroffen habe, antwortet Roy: »Natürlich waren sie nicht schuldig, aber ebenso wenig waren es die Menschen, die in Amerikas Kriegen und Gegenschlägen starben, noch sind es die Zivilisten im Irak.«

Die Idee, die USA hätten mittels Sanktionen gegen den Irak eine halbe Million unschuldiger Kinder umgebracht, gehört zu den bevorzugten Roys, die sich von der allseits bekannten Tatsache nicht beirren lässt, dass die Sanktionen Lebensmittel-Einfuhren nicht betreffen.

So teilt sich die Welt: Hie USA, Israel, Kapital, da palästinensische, irakische, afghanische, indische Opfer. Auf der einen Seite »halb verhungerte Menschen«, »eine halbe Million verkrüppelter Waisenkinder« in Afghanistan, »Millionen zwangsumgesiedelter Menschen« in Indien, deren »Unterbringung schlimmer (ist) als in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches«, auf der anderen »der unverkennbare Geruch des Faschismus«, »die Häuptlinge des neuen globalen Dorfes, die in den schimmernden Büros der WTO sitzen«, »marodierende Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken«.

Dass Arundhati Roys Gedanken von marodierenden Multis angeknabbert sein könnten, wird niemand annehmen. Ihr Denken scheint eher von Célinescher Paranoia und jener Mischung aus Rohheit und Eifer beherrscht, die bei Globalisierungsgegnern ebenso gut ankommt wie bei FAZ-Lesern. 1999 schrieb sie: »Ist die Psyche des Bombenattentäters, der sein eigenes Leben opfert - die 'Wir-nehmen-euch-mit'-Schule - wirklich etwas so Abwegiges?«

Arundhati Roy: Die Politik der Macht. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm u.a. btb, München 2002, 312 S., 8 Euro

http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2002/13/26a.htm