http://www1.kas.de/publikationen/2002/ai/01_maluschke.pdf.

Die Resonanz der Terroranschläge vom 11. September 2001 in derbrasilianischen Publizistik

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington haben, wie überall in der Welt, auch in Brasilien in den Medien und öffentli-chen Diskussionen ein breites und perspektivenrei-ches Echo gefunden. Während die barbarischen Atten-tate in den USA bewirkten, dass die Nation sich mitabsoluter Mehrheit hinter den zum Kampf gegen denTerrorismus entschlossenen Präsidenten stellte, löstensie in Brasilien eine Welle der Entrüstung nicht nurgegen die Attentate, ihre Planer und Vollstrecker aus,sondern auch und vor allem gegen die zu erwarten-den Reaktionen der Amerikaner. Die Aussicht aufden ersten Krieg des 21. Jahrhunderts und die Angstvor seiner möglichen Ausweitung sowie vor einerweltweiten Rezession erhitzten die Gemüter, undentsprechend leidenschaftlich fielen die meisten Kom-mentare aus. Nüchterne Analysen der neuen Welt-lage waren zunächst Mangelware. Aber die Tragödiewar zugleich eine Antriebskraft für die spezifischbrasilianische Witz- und Kalauerproduktion, in derzum Teil Bin Laden, in viel stärkerem Masse jedochGeorge Bush zur Zielscheibe von Häme und Spottwurden.In Gesprächen im Freundeskreis, am Arbeitsplatz,im Meinungsaustausch unter Universitätsprofesso-ren usw. konnte die Bekundung des Entsetzens überdie Ruchlosigkeit der Attentate unmittelbar um-schlagen in Äusserungen der Bewunderung über diePerfektion der Planung und Koordination der An-schläge sowie die Kühnheit der Täter und der Befrie-KAS-AI 1/02, S. 76-96
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77digung darüber, dass es den Terroristen gelungen sei,die amerikanische Supermacht zu demütigen undihre Arroganz zu bestrafen. In einer streng katholi-schen Familie, die bei allen erdenklichen Gelegenhei-ten militant für die Heiligkeit und Unantastbarkeitdes menschlichen Lebens, einschliesslich des unge-borenen, eintritt, musste ich mit anhören, wie derHausherr ausrief: „Die Attentäter hätten nicht soviele unschuldige Menschen, sondern allein GeorgeBush umbringen sollen.“ Der Sprecher dieses Satzesist Universitätsprofessor und pflegt in der Kolumneeiner Regionalzeitung in einem 14-Tage-Turnus seinepolitischen Meinungen kundzutun. In der Publizistikwurden Beiträge geboten, die zumeist ein merkwür-diges Gemisch aus leichtfertigem Pazifismus, Anti-amerikanismus und Anti-Bush-Polemik darstellten.Auffällig ist das Unverständnis für den in der Aus-nahmesituation gestärkten Patriotismus der amerika-nischen Nation. Er wird vorwiegend als Katalysatoreines gefährlichen Etatismus und Militarismus beur-teilt. Da in Brasilien allenfalls Oppositionspolitikerauf eine gewisse Popularität hoffen können, währenddie Stänkerei gegen Regierungsvertreter eine ArtVolkssport der alphabetisierten Bevölkerung ist, ver-steht man hierzulande die patriotischen Äusserungender Amerikaner vor allem als Ausdruck der Wut einesrachsüchtigen und blutrünstigen Volkes. Die Pole-mik gegen den amerikanischen Präsidenten nimmt bis-weilen Formen an, dass es aussieht, als befänden sichdie Brasilianer in einem Wahlkampf, in dem Bush alsder von der Mehrheit gehasste Kandidat auftritt unddie Masse so sehr in Rage versetzt, dass sie dazuübergeht, ihn mit faulen Tomaten zu bewerfen. In der Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Caros Ami-gos werden in einem Artikel mit dem Titel „OReichstag de Bush“ („Der Reichstag von Bush“, Ver-fasser: José Arbex Jr.) fünf Gründe dafür aufgeführt,dass „niemand so viel Nutzen aus dem 11. Septemberzog wie George Bush Jr.“.1. Bush wurde nicht von der Mehrheit seines Volkrsgewählt; er hat kein Charisma und seine sprachli-chen und intellektuellen Fähigkeiten sind misera-bel. Aber der 11. September brachte die Wende:plötzlich ist er populär; die Amerikaner stehen ge-schlossen hinter ihm. Seine Präsidentschaft erhälteine nachträgliche Legitimation. (Stand seine Legi-José Arbex Jr., „O Reichstag de Bush“, in:Caros Amigos, Okt. 2001
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78timität nach dem Amtsantritt je in Frage? Wer ple-biszitäre Akklamation mit Legitimation gleichsetzt,sollte die Konsequenzen bedenken: schlimmsteTyrannen erhielten diese Art von „Legitimation“.Falls man wirklich meint, durch die unschönenModalitäten seiner Wahl habe Bush die demokra-tische Legitimität verfehlt, dann können spätereplebiszitäre Beifallsbekundungen ihm keine rang-gleiche Legitimation verleihen.)2. Die Globalisierungsgegner und Sytemkritiker sindmundtot gemacht. Die Terroranschläge dienen inden USA und in Europa als Vorwand, die Polizei-aufsicht zu verschärfen. Selbst in peripheren Län-dern wie Brasilien diente das Attentat als Vorwandfür eine beispiellose Eskalation der „Polizeimenta-lität“. (Was die brasilianische Polizei betrifft, so istsie berühmt für Willkürakte gegen die Unter-schicht und Nachlässigkeit hinsichtlich der übli-chen Aufgaben polizeilicher Aufsicht und Hilfe-leistung. Daran hat sich seit dem 11. Septemberabsolut nichts geändert. Was immer der Autor unter„Eskalation der Polizeimentalität“ versteht: allemAnschein nach ist es ein reines Phantasieprodukt.)3. Bush und sein Vize sind oil men, direkte Vertreterder Ölinteressen von Texas. Die gegen die Talibangerichteten Aktionen der USA haben nur schein-bar etwas mit dem Kampf gegen den Terrorismuszu tun. In Wahrheit dienen die Terroranschläge alsVorwand für eine – vor dem 11. September un-denkbare – großangelegte Invasion in jene Region,die traditionell zum Einflussbereich Russlandsgehört. (Glaubt der Verfasser wirklich an eine„grossangelegte Invasion“ und eine dauerhaftePräsenz amerikanischer Truppen, um Russland die-sen Einflussbereich streitig zu machen?)4. Die Schwere der Anschläge geben dem WeissenHaus die Rechtfertigungsgründe, alle Rücksichtenauf die UNO fallen zu lassen und ausschliesslichein strategisches Ziel zu verfolgen, nämlich solideGrundlagen zu schaffen, die es erlauben, Eurasienganz oder teilweise zu kontrollieren. Der Plan derUSA ist es, einen cordon sanitaire um Russlandherum anzulegen. Die Idee eines „fanatischenIslam“ ist ein Vorwand und der „Kampf gegen denIslam“ (sic !) hat als realen (aber verschwiegenen)Rechtfertigungsgrund den geopolitischen Boden,
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79auf dem der Islam sich ausbreitet. (Man fragt sich,ob der Autor tatsächlich so naiv ist zu glauben,kriegerische Maßnahmen seitens der USA wärenunterblieben, falls die Terroristen Unterschlupf ineinem Gastgeberland gefunden hätten, das für dieUSA geopolitisch uninteressant ist. Und vor allem:wenn es um einen cordon sanitaire ginge, welchesInteresse hätte Putin, an seiner Errichtung so aktivmitzuwirken? Es mag ja sein, dass die Globalhege-monie der Vereinigten Staaten mit Unbehagen vonRussland, China, Indien und Pakistan hingenom-men und anerkannt wird; aber ihre aktive Zusam-menarbeit mit den USA zeigt, dass es im Kampfgegen den Terrorismus nicht ausschliesslich umamerikanische Interessen geht, sondern dass es andiesem Punkt eine weitgehende Koinzidenz derpolitischen Interessen dieser Länder gibt. Dochdafür ist der Autor blind.)5. Die fünfte Begründung dafür, dass vor allem Bushaus dem 11. September Nutzen zieht, ist nichts wei-ter als eine absurde Verdächtigung mittels des bizar-ren Vergleichs zwischen den Terrorakten vom 11.September 2001 und dem Berliner Reichstagsbrandvom 28. Februar 1933. Bush und seinen Ministernwird unterstellt, sie müssten nach dem 11. Septem-ber „ähnliche Vorstellungen“ gehabt haben wieHitler, der den Reichstagsbrand zum Anlass nahm,dem Kommunismus den Kampf anzusagen. Bushkann sich dank des neuen Feindes profilieren. Wieder 28. Februar ideal war für Hitlers Machtergrei-fung, so ist auch der 11. September ideal, um dermittelmässigen Regierung von Bush entscheiden-den Auftrieb zu geben und dessen Diktatur zurechtfertigen.In zahlreichen anderen Publikationen der brasiliani-schen Presse wurden die ersten Fernsehansprachendes Präsidenten unmittelbar nach den Anschlägen, indenen dieser nur mit Mühe seine emotionale Betrof-fenheit und nervliche Anspannung zu kontrollierenvermochte, als Indizien von Schwäche und fehlenderBefähigung für sein Amt gedeutet; hier jedoch wer-den ihm aufgrund dieses leichtfertigen Vergleichskalter machtpolitischer Zynismus und diktatorischeAmbitionen unterstellt, die ihn motivieren, die Ter-rorakte als Glücksfälle für das Prestige seiner Präsi-dentschaft zu nützen.
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80Parallel dazu wird in der brasilianischen Pressedem britischen Premierminister Tony Blair, derGroßbritannien zum engsten Verbündeten der USAund sich selbst, wie es in einem Beitrag heisst, „zu einerArt Botschafter der amerikanischen Politik“ bzw.„Regierungssprecher des Weißen Hauses“ machte(República, nº 61, Nov. 2001), ein kalkulistisch-prag-matisches Eigeninteresse unterstellt. Schlau habe erdie Tragödie als Gelegenheit erfasst, „größeren Raumim internationalen Szenario einzunehmen“. Es seiihm durch sein Engagement und seine Beredsamkeitgelungen, alle britischen Premierminister seit demZweiten Weltkrieg, einschließlich Margaret Thatcher,an Popularität zu übertreffen. Infolge seines extre-men Einsatzes nähere sich Blairs Führungsstil mehrund mehr der präsidentialistischen Regierungsforman; er übernehme viele Befugnisse des Außenminis-ters, mische sich in alle militärischen Entscheidungenein und setze sich damit der Gefahr aus, seine Popu-larität wieder zu verlieren, sobald der bereits schwe-lende Konflikt mit den Verteidigern des parlamenta-rischen Systems eskaliert. Bis dahin werde er jedochalles daransetzen, eines Tages als ein Staatsmann vonder Statur eines Churchill in die Geschichte einzuge-hen.Mit keinem Wort wird in diesem Artikel die Mög-lichkeit erwogen, dass Blair angesichts des realen Ge-fahrenpotenzials, das die internationalen terroristi-schen Netzwerke darstellen, im ureigenen InteresseGrossbritanniens und Europas handelt und sein An-sehen als Staatsmann seinen tieferen Grund in seinemtreuhänderischen Eintreten für genau diese Interes-sen und eine als gerecht erachtete Sache haben könnte.In der Fixierung auf die Fragen „Wem nützen dieEreignisse?“ bzw. „Wer kann sie sich zunutze ma-chen?“ gibt dieselbe Zeitschrift die Parole aus: „DieTürme fielen für die Rechten“ und – so die weitereÜberlegung – mit ihnen würden die bügerlichen Frei-heiten und die Demokratie in die Tiefe gerissen. DieWirkung reiche bis nach Brasilien; denn in den Prä-sidentschaftswahlen im Jahre 2002 würden die kon-servativen Parteien davon profitieren, die Linkspar-teien jedoch Schaden nehmen. Das in der brasilianischen Publizistik aktuell domi-nante Ideenspektrum rankt sich um den Themen-kreis „Frieden, Gerechtigkeit, radikale Demokratie,„A Europa e a Guerra.Para inglês (e o resto domundo) ver“ (ohne Verf.), in:República, Jg. 6, nº 61,November 2001Instituto de EstudosSocioeconômicos (Hrsg.), Pazo desafio, 96 p., Brasília 2001
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81solidarischer Internationalismus, Menschenrechte“.Einige besonders typische Artikel zu diesem The-menbündel finden sich in einer Veröffentlichung desInstituto de Estudos Socioeconômicos (INESC, In-stitut sozioökonomischer Studien), das seinen Sitz inBrasília hat. Die Publikation trägt den Titel Frieden:die Herausforderung. Es handelt sich um eine Samm-lung von Artikeln, von denen einige eigens für dieseOktober-Ausgabe verfasst wurden, andere jedoch be-reits zuvor in Zeitungen erschienen waren.Wer von den Veröffentlichungen eines derartigenInstituts empirische Analysen und Argumente er-wartet, in denen sich die in Ökonomie und Sozial-wissenschaften anerkannten Methoden niederschla-gen, wird von dem Oktober-Heft enttäuscht. Die hierausgewählten Aufsätze verdienen durchweg nichtden Titel „Studien“; sie haben nahezu alle Pamphlet-charakter und anstelle rationaler Argumentation über-wiegt der ideologische Diskurs und die Agitation.Ein Grundthema durchzieht wie ein roter Fadendie Beiträge dieses Heftes: der Protest gegen denKrieg der hochgerüsteten amerikanischen Supermachtgegen das verarmte, hungrige und wehrlose Volk derAfghanen, wobei manche Formulierungen den Ein-druck erwecken, Kriegsziel der USA sei ein Massa-ker am afghanischen Volk.Den Auftakt bildet der Artikel „A miséria do rea-lismo político“ (Das Elend des politischen Realis-mus) von Wellington Almeida. Der Autor bringt sei-nen Zweifel an einer Politik, die auf militärischeGewalt setzt, um den internationalen Terrorismus zubeseitigen, durch ziemlich skurrile Thesen zum Aus-druck. So behauptet er, kriegerische Aktionen wür-den den Gruppen, die den Terror als politische Waffebenutzen, weitere Gründe geben, auf diesem Wegfortzufahren. Das läuft darauf hinaus, dem Terroris-mus das Gewaltmonopol zu überlassen; denn mitdemselben Recht könnte man behaupten, auch dieFestnahme von Spitzenterroristen, sollte sie gelingen,würde die Attentäter zu neuen Gewalttaten provo-zieren.Die zweite These lautet, nur ein Polizeistaat könneneue Attentate verhindern; eine Polizeistaatspolitiksei jedoch mit der Demokratie inkompatibel.Gäbe es diese Alternative, dann stellt sich automa-tisch die Frage: Was ist vorrangiges Staatsziel: SchutzWellington Almeida,„A miséria do realismopolítico“
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der demokratischen Freiheiten oder des Lebens derBürger? Dass es Demokratien gibt, die bereit sind,sich zu verteidigen, und notfalls auch mit militäri-scher Gewalt, und dass Demokratien für den Notstandauch Notstandsgesetze brauchen, liegt ausserhalbdes Denkhorizonts des Autors. Er ist ausschliesslichdarauf fixiert, im Kampf für den Frieden einen„anderen Diskurs zu konstruieren“, einen Diskurs,der mit den Prinzipien einer „radikalen Demokratie“übereinstimmt und der gegenüber keinerlei Form derGewalt – sei es die terroristische, sei es die staatliche– Konzessionen macht. In diesem Diskurs geht es umdie Verteidigung der Demokratie, der öffentlichenDebatte und der religiösen Toleranz.Sancta Simplicitas: Verteidigung allein durch denDiskurs. Das muss die Terroristen, deren Furor durchstaatliche Gewalt angeblich noch weiter angestacheltwird, aber mächtig einschüchtern!Völlig unverständlich ist die Schlussüberlegung desAutors: die für die Attentate Verantwortlichen hät-ten mit der Tagesordnung dieser radikaldemokrati-schen Politik nichts zu tun; denn Männer wie BinLaden und Sadddam Hussein gehörten zu jenerDimension des „tieferen und banalen Bösen“, von demHannah Arendt sprach. Ist dieses „banal Böse“ eineSphäre jenseits aller Politik, eine für die Politik uner-reichbare und zu vernachlässigende Größe? Oder istes etwas zu Bekämpfendes? Die Polemik gegen das„Elend des politischen Realismus“ geriet dem Ver-fasser wider Willen zur Demonstration des Elendsdes utopischen Pazifismus. In seinem Aufsatz „E, no entanto, outro mundo épossível“ (Und dennoch ist eine andere Welt mög-lich) macht sich auch Cândido Grzybowski für dieseutopischen Phantasiegebilde stark. In einem Atemzugnennt und verurteilt er den internationalen Terroris-mus und die „gigantischen und verbrecherischenAktionen der Regierung Bush“. Gegen Bush – so derAufruf – „müssen wir eine Antwort der globalisiertenBürgerschaft geben, mit dem Ziel des Friedens, undzwar mir Mut und Kühnheit“. Die mächtige Bewe-gung der Anti-Globalisierungskampagne, aus dereine Weltbügergesellschaft erwuchs, habe durch dieTerrorakte einen schweren Rückschlag erlitten. Nunmüssten deren aktive Mitglieder, die für einen plane-tarischen Humanismus eintreten, der die Werte derCândido Grzybowski,„E, no entanto, outro mundoé possível“82
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83Freiheit, Gleichheit, Verschiedenheit, Solidarität undPartizipation verteidigt, dringend ihre Strategien über-denken. Sie hätten eine historische Verantwortung zuübernehmen; es gelte, der „rein destruktiven Logikdes Terrors und des Krieges“ eine auf den Frieden zie-lende konstruktive Logik entgegenzusetzen. DenFrieden konstruieren heisse, die Konflikte in kon-struktive Kräfte der demokratischen und freien Ge-sellschaft zu verwandeln, die allen Erdenbürgern inihrer Verschiedenheit der Kulturen, des Stils und derWünsche das Zusammenleben des Gegensätzlichenim Geist der Menschenrechte ermöglicht.Verblüfft fragt sich der Leser derartig bombasti-scher Ideen: Und was macht man, wenn einige fana-tische Ideologen oder von religiösem Wahn Beses-sene auf die „konstruktive Logik“ des Pluralismusund der Menschenrechte pfeifen und wild entschlos-sen sind, die Welt mit allen Mitteln, Massenvernich-tungswaffen eingeschlossen, nach ihren totalitärenIdeen zu verformen?Gegen solche globale Radikalität muss man, soglaubt der Autor, radikal (demokratisch) und globalandenken. Ein Hilfsmittel ist es, „den solidarischenInternationalismus“ zu stärken. Da der Norden, wodie destruktive Logik des Krieges vorherrscht, denPazifisten keinen Raum lässt, müssten die Weltbür-ger, die südlich des Äquators und außerhalb des Epi-zentrums der Krise leben, die größere Verantwortungübernehmen und als Mandatare der pazifistisch ein-gestellten Weltbürgergesellschaft agieren. – Es gelte,radikaldemokratische Projekte von weltweiter Machtzu konstruieren. Gegen die hegemoniale Politik derUSA und der G7-Staaten, die mit ihrer ökonomischund militärisch geprägten Interessenpolitik die Ursa-chen von Terror zuspitzen, müsse die sich bildendeWeltbürgergesellschaft Informationsnetze kreieren,um die Alternativen einer besseren Welt zu diskutie-ren.Die Diskursversessenheit der hier zu Worte kom-menden radikaldemokratischen Pamphletisten, die aufpure Gewaltlosigkeit setzen, und ihr absolutes Ver-trauen auf die politische Wirkung des Wortes sindrührend und schaden nicht, solange die westliche Zivi-lisation von diesem Bazillus nicht angesteckt wird.Das Ausmaß des dogmatisch-naiven Glaubens an diekonstruktive Kraft des Diskurses ist allerdings wirk-
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lich verblüffend; denn der Diskurs müsste, um poli-tisch erfolgreich zu sein, auch die fanatisierten Terro-risten überzeugen. Dazu bräuchte man Engelszun-gen.Auch in anderen Aufsätzen dieses Heftes wird aufdie Gefahren einer Militarisierung der Staatsaktionenund der dadurch drohenden Beschränkung der demo-kratischen Freiheiten hingewiesen, und es wird derangebliche Rückfall der USA in die Ideologie desKalten Krieges beklagt. Ich will jedoch nur noch aufzwei Artikel dieses Heftes eingehen, in denen nocheine Reihe eigenwilliger Gedanken vorgetragen wer-den.In seinem Beitrag „Terrorismo e a nova ordemmundial“ (Terrorismus und die neue Weltordnung)zeichnet sich der emeritierte Bischof von Goiás, DomTomás Balduíno, durch den Dogmatismus absolutermoralischer Gewissheiten und durch die für seinenStand nicht untypische Attitüde klerikaler Unfehlbar-keit aus.Er unterscheidet drei Typen des Terrorismus: 1.den nicht vorhersehbaren, der von anonymen, un-sichtbaren Urhebern praktiziert wird (er begnügt sichmit dieser Definition und widmet dieser Terro-rismusform keine weitere Aufmerksamkeit); 2. densichtbaren, offiziellen, staatlichen, imperialen, lega-len, grosssprecherischen, der internationale Forenund weltweite Medien mobilisiert, um die öffentlicheMeinung für seinen Terrorismus zu gewinnen; 3. denTerrorismus des neoliberalen ökonomischen Modells.Den heiligen Zorn des Bischofs erregen die zweiteund die dritte Form des Terrorismus.Nachdem der internationale Terrorismus die „tö-nernen Füße“ der amerikanischen Supermacht bloß-gelegt habe (meint der Bischof damit etwa die Libe-ralität der amerikanischen Gesellschaft, die denTerroristen so viel Freiraum für ihre mörderischenUntaten ließ?), gehe nun der offizielle Terrorismuszum herrschsüchtigen Autoritarismus, zu Arroganzund Verachtung über, getrieben von Racheinstinktund Durst nach einem Blutbad. In obszöner Weisestelle die Supermacht vor der ganzen Welt die trium-phale Überlegenheit ihres Kriegsarsenals zur Schau.Die dritte Form des Terrorismus, das neoliberaleModell, macht der Bischof für das Elend von einerMilliarde von Personen, des fünften Teils der ganzenDom Tomás Balduíno,„Terrorismo e a nova ordemmundial“84
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85Menschheit, verantwortlich, weil dieses Wirtschafts-modell die unglaubliche Konzentration des Reich-tums verursache. Es gibt für ihn keinen Zweifel, dassdies der Terrorismus ist, der heute die meisten Men-schen tötet, aber auch die „Mutter Erde, die Schwes-ter Wasser, kostbar und rein, den Bruder Wind, dieLuft und die Zeit“, wie er mit einem Zitat von Franzvon Assissi hinzufügt. An diesem Terrorismus seiBush beteiligt. Und die Welt verzeihe ihm nicht, dasser die Unterzeichnung des Kyoto-Vertrags ablehnte. Den Krieg verurteilt der Bischof als unmoralisch.Auch über den Ausweg aus der Krise macht er sichGedanken. Nötig sei die Errichtung einer internatio-nalen Gesellschaft des Rechts und der Gerechtigkeitder neuen Weltordnung.Wie aber diese „neue Weltordnung“ angesichts dervom internationalen Terrorismus ausgelösten Welt-unordnung herzustellen sei, dazu bleibt der Bischofeine Antwort schuldig. In seinem Traktat „A ,America’s new war‘ e o re-crudescimento do velho etatismo“ (,Amerika’s newwar‘ und das Wiederaufleben des alten Etatismus)äußert Augusto de Franco seine Befürchtung, derneue Krieg Amerikas könne sich ausweiten undeinen Rückschritt der Zivilgesellschaft bewirken. Erversichert, dass das „wahre Böse [...] die Installationdes Krieges als Normalzustand der Welt“ sei. „DasBöse an sich ist der Rückgriff auf den Krieg.“ JederKrieg sei Terror.Er mokiert sich darüber, dass die USA stets einFeindbild kreieren, einen Feind konstruieren. Zeit-weilig brauchten sie dazu die Parole von den „Schur-kenstaaten“. Endlich, seit dem 11. September, haben sieeinen „guten Feind“ gefunden. (Soll ‚gut‘ hier ‚glaub-würdig‘ bedeuten?)Dem Verfasser zufolge ist der religiös-politischeTerrorismus nur eliminierbar, wenn wir auch denStaatsterrorismus abschaffen. Man könne den Terro-rismus nur besiegen, wenn man auch seine Gründebesiege. Allein durch demokratische Politik sei derTerrorismus überwindbar. (Gilt für den Autor auchder Umkehrschluss: die undemokratische Politik derUSA und ihrer Verbündeten ist Quelle der Gründedes Terrorismus?)Eine zentrale These des Autors lautet: eine Folge derTerrorakte ist das Wiederaufleben des Etatismus undAugusto de Franco, „A,America’s new war‘ e o re-crudescimento do velho eta-tismo“
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die akute Gefahr der Errichtung eines Mega-Polizei-staats, d.h. eines Megastaats des Terrors. Die Ideolo-gie des Etatismus sei antidemokratisch; ihr Hauptin-teresse sei das staatliche Gewaltmonopol und dieKontrolle der Gesellschaft durch den Staat. Auf-grund ihrer eigenen Natur entziehe demokratischePolitik sich jedoch der Kontrolle; der Ausgang desdemokratischen Prozesses sei prinzipiell ungewiss.Wenn er diesen direkt-demokratischen Ideen sol-che Relevanz zuschreibt, wieso begreift dann derAutor nicht auch die (nicht kontrollierbare) Zustim-mung des amerikanischen Volkes zu kriegerischenAktionen gegen die Al-Qaida-Clique und die Regie-rung, die sie unterstützt, als das Resultat eines demo-kratischen Prozesses? Etwa weil entgegen seinen nor-mativen Erwartungen eine Demokratie zum Kriegentschlossen ist? Soll über Krieg und Frieden zwi-schen den USA und ihren Feinden und das Recht derAmerikaner auf Selbstverteidigung etwa in jenemTeil der Weltgesellschaft entschieden werden, dersich weitab vom Epizentrum der Auseinandersetzungbefindet?Tatsächlich scheint dies seine Meinung zu sein;denn er beschwört die Verpflichtung der Weltbürger-gesellschaft, gegen den Kriegswillen der amerikani-schen Regierung [den des amerikanischen Volkesignoriert er] zu reagieren, eine Verpflichtung nicht nuraus moralischen Motiven, sondern im Interesse ameigenen Überleben; zumal Gefahr drohe, dass die Weltin den Strudel eines neuen Weltkriegs gerissen wird.Die „Staatsräson“ müsse durch die Schaffung neuer„Gesellschaftsräsons“ (im Plural !) ausbalanciert wer-den. Nottut „Networking für den Frieden“.Da es kein neues weltumfassendes Gewaltmono-pol gibt und nicht geben darf, bleibt für den Verfas-ser nur die Politik der großen Worte. Aber nun weißes die Weltbürgerschaft wenigstens: Rettung ist mög-lich durch den Exzess pazifistischer Schlagwörter imMedium einer tropisch wuchernden Rhetorik.Noch fehlt dem utopischen Pazifismus eine ko-härente Theorie. Seine Vertreter sind sich nicht einig:der eine meint, vor Terrorismus schütze leider nur einPolizeistaat; der andere behauptet, nur demokrati-sche Politik vermöge den Terrorismus zu besiegen.Wird hier ein alter Traum neu geträumt? Die Kom-munisten wollten eine Gesellschaft „neuer Menschen“86
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87herstellen, in der es keine Gefängnisse mehr gibt, weilkeiner der neuen Menschen mehr Verbrechen begeht.Sie haben dafür viele der „alten Menschen“ ins Ge-fängnis gesperrt oder ausgerottet, ohne dass der neueMenschentyp zum Vorschein kam. Nun sind wir, soscheint es, Zeugen eines neuen Traumes, des Traumeseiner „neuen Demokratie“, einer antietatistischen De-mokratie der Weltgesellschaft, in der der Terrorismusvon selbst verschwindet.Ein in Brasilien wichtiger politischer Meinungsbild-ner ist Leonardo Boff, der berühmte Vertreter der„Theologie der Befreiung“. Ihm ist mit seinem Arti-kel „A globalização do inimigo“ (Die Globalisierungdes Feindes), der am 26. November 2001 in der ange-sehenen Folha de São Paulo erschien, eine besondersperfide Verleumdung Amerikas und seines Präsiden-ten gelungen. Der Essay wurde unmittelbar danachper Internet verschickt, so dass er noch größere Ver-breitung fand.Nach Boff ist Bush Vollstrecker zweier Ideologien,der des preußischen Militärtheoretikers Karl vonClausewitz und der des deutschen StaatsrechtlersCarl Schmitt – Boff zufolge einer der großen moder-nen Theoretiker der politischen Philosophie auf fa-schistischer Grundlage. Die Nachwirkungen des Clau-sewitzschen Sicherheitsdenkens auf die von Bushnach den Terrorakten praktizierte Politik glaubt Bofffolgendermaßen charakterisieren zu können: „ImNamen der Sicherheit verkehrt sich der grundlegendeSinn des Rechts: bis zum Beweis des Gegenteils ste-hen alle unter dem Verdacht, Terroristen zu sein.“Nicht einmal der jüngst erlassene USA PatriotAct, der von vielen Fachleuten nicht zu Unrecht alsüberzogen kritisiert wird, rechtfertigt die BoffscheBehauptung bezüglich der Politik der Bush-Admini-stration, und in Bezug auf Clausewitz ist sie völligdeplatziert.Für Bushs Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“und die Gleichsetzung von Freund mit Gut undFeind mit Böse zieht Boff Schmitts Buch Der Begriffdes Politischen als Erklärungsfolie heran. SchmittsGedanken werden durch „Zitate“ wiedergegeben, diesich Boff für seine agitatorischen Zwecke zurechtge-schnitten hat, wie: „Das Wesen der politischen Exis-tenz eines Volkes ist seine Fähigkeit, den Freund undden Feind zu bestimmen.“ Der Satz steht in An-Leonardo Boff, „A glo-balização do inimigo“, in:Folha de São Paulo,26. 11. 2001
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führungszeichen; aber einen solchen Text gibt esweder im deutschen Original noch in der portugiesi-schen Übersetzung. Danach fragt Boff: wer ist derFeind? Und er antwortet mit einer Zitatfälschung:„Es ist jener existenziell Andere und Fremde, so dassim extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind.Wenn das Anderssein des Fremden die Negation dereigenen Existenz bedeutet, so muss er abgewehrt undbekämpft werden, um die eigene Lebensart zubewahren. In der psychologischen Wirklichkeit wirdder Feind leicht als böse und hässlich behandelt.“Auch diesen Text gibt es bei Schmitt nicht; es ist einaus Textschnipseln zusammengesetztes Zitatsurrogatund verkehrt die Schmittschen Gedanken genau dortin ihr Gegenteil, wo die Verwandtschaft zwischenSchmitts und Bushs Ideen liegen soll. Für Schmitt istder Freund-Feind-Gegensatz ein völlig selbständigesKriterium des Politischen, der mit den GegensätzenGut und Böse im Moralischen und Schön und Häss-lich im Ästhetischen nichts zu tun hat. „Die seins-mäßige Sachhaltigkeit und Selbständigkeit des Politi-schen zeigt sich schon in dieser Möglichkeit, einenderartigen Gegensatz wie Freund-Feind von anderenUnterscheidungen zu trennen und als Selbständigeszu begreifen“ (Der Begriff des Politischen, Berlin:Humblot 1963, S. 28). Bushs Gleichsetzung vonFreund und „Gut“ sowie Feind und „Böse“ könnteSchmitt gerade nicht akzeptieren. Die politische Ent-scheidung, den Feind, der die Existenz und Lebens-form eines Volkes bedroht, zu bekämpfen, ist unab-hängig von der Frage, ob die Regierung und diekämpfende Truppe diesen Feind hassen oder nicht.Solche Subtilitäten sind jedoch Boffs Absicht ab-träglich, die Politik des amerikanischen Präsidentenals faschistisch zu diffamieren. Als kritischer Leserbefindet man sich in der Situation, die nüchterneAnalyse Schmitts, der in der Tat eine national-sozia-listische Vergangenheit hatte, gegen die bisweilenunangemessene und pathetische Rhetorik von GeorgeBush abzugrenzen, um für Schmitt als Theoretikereine adäquate Beurteilung zu postulieren.Der Artikel endet mit einer Aneinanderreihungvon Unterstellungen, Befürchtungen und Anschuldi-gungen. Die Feinde seien: die Länder, die als Schur-kenstaaten gelten, die Befreiungsideologien und Reli-gionen des Widerstands in aller Welt, die linken88
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89Antikapitalisten, die Kritiker der Globalisierung, dieBefreiungstheologien in Südamerika, Afrika undAsien, die „starken Gruppen des populären Islamis-mus fundamentalistischer Prägung und die theolo-gisch-islamischen Kreise, die sich rückbesinnen aufdie befreienden Ursprünge der Heldentaten Moham-meds und den ursprünglichen Sinn des Korans. AlleAufgezählten sind eventuelle Feinde.“ Immerhin: sie sind nicht a priori Feinde. Sie sindpotenzielle Feinde. Auf die Eventualitäten aktuellerFreund-Feind-Entscheidungen geht Boff nicht näherein. Aber die entrüstete Aufzählung von möglicher-weise Betroffenen erweckt den Eindruck eines anti-zipierenden generellen Freispruchs. Dies ist umso er-staunlicher, als eine der aufgezählten Gruppen,nämlich der fundamentalistische Islamismus, derHass und Feindschaft gegen die westliche Zivilisationpredigt, ihre Unschuld bereits verloren hat. Dafürhat Boff jedoch keinen Blick. Wohl aber sieht er Ge-fahren, die von den USA ausgehen könnten, nämlich:mit noch grösserer Raserei zu wiederholen, was inden sechziger Jahren unter den Regimen der nationa-len Sicherheit (wohlgemerkt: Sicherheit des Kapitals)geschehen sei.Es ist ja verständlich, dass in Lateinamerika dieamerikanische Politik immer wieder in der Perspek-tive der politischen „Sünden“ gesehen wird, die dieAmerikaner hier in der Vergangenheit begangen haben.Aber muss man sich so sehr von Erinnerungen an dieVergangenheit bestimmen lassen, dass darüber derSinn für neuartige Problemlagen verloren geht unddamit zugleich auch die Fähigkeit, über ihre aktuellfälligen Lösungen sachgerecht nachzudenken? Gibt es keine anderen Stimmen? Findet man zuunserem Thema in der brasilianischen Publizistik nichtauch Stellungnahmen, die offener sind für die Stand-punkte der USA und Europas und die ein wenig überden Tellerrand hausgemachter Ideologien und hier-zulande üblicher Gemeinplätze hinausblicken?Nun, es gibt sie, die anderen Stimmen. Auch wennsie nicht übermäßig zahlreich sind, so fehlt es nichtan Wortmeldungen von rechts, die gegen linke Ideo-logien zu Felde ziehen, oder aber auch an kritischenÄußerungen von moderateren und nachdenklicherenSympathisanten der Linken. So prägte die Veja vom3. Oktober 2001 auf der Titelseite die Schlagzeile „OVeja, Jg.34, n°39,3. 10. 2001. Titelblatt: „O VÍRUS ANTI-EUA. Ademagogia que transformoua vítima em culpada“
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VÍRUS ANTI-EUA. A demagogia que transformoua vítima em culpada“ (Der Virus des Antiamerikanis-mus. Die Demagogie, die das Opfer in den Schuldi-gen verwandelt). Auch andere Zeitungen und Zeit-schriften widmeten diesem Thema kritische Analysen.Besonders hinweisen möchte ich auf Stellungnah-men von Olavo de Carvalho, der die Desinformatio-nen in der brasilianischen Presse aufs Korn nahmund Klischees kritisierte, die den Denkhorizont desLesepublikums einengen. In Época (nº 176, 1. Okto-ber) konterkariert er beispielsweise die weitverbrei-tete Auffassung, die Terrorakte seien die legitime Re-aktion auf den „aggressiven Militarismus“ der USA,indem er darauf aufmerksam macht, dass im Laufedes letzten Jahrhunderts in den beiden Weltkriegenund in verschiedenen Regionalkonflikten ca. 1,6 Mil-lionen Menschen durch amerikanische Militäraktio-nen zu Tode kamen, während demgegenüber in derHälfte dieses Zeitraums eine dreissigfache Anzahlden chinesischen Kommunisten zum Opfer fiel. ImZweiten Weltkrieg töteten die Amerikaner an allenFronten des Krieges 925 000 Personen, während vonden Kommunisten allein in Kambodscha doppelt soviele getötet wurden. In Vietnam starben 213 000 Men-schen durch amerikanische Militäroperationen; vier-mal so hoch war die Zahl derer, die 1994 innerhalbvon zehn Wochen in Ruanda linken Todesschwadro-nen zum Opfer fielen.Ich kann die Zahlenangaben nicht überprüfen undbin auch nicht in der Lage, in der gebotenen Eilenachzuforschen. Falls die gegeneinander postiertenZahlen korrekt sind, dann ist der Vergleich durchausaussagekräftig. Diese Opferaufrechnung – mag mansie auch als makaber empfinden – entzieht dem Antia-merikanismus den Anschein objektiver Begründet-heit. Auch unabhängig von diesem Zahlenvergleichkann man aber feststellen, dass die ungeheure Mengevon Stalin- und Mao-Opfern nie einen vergleichba-ren Antisowjetismus oder Anti-China-Komplex her-vorbrachten. Der Pazifismus ist zumeist auf dem lin-ken Auge blind bzw.: er ist linker Pazifismus gegenwestliche („rechte“) Militärmacht. Damit wird deut-lich, dass am Zustandekommen des globalen Antia-merikanismus zu einem guten Teil ideologische Des-information beteiligt gewesen sein muss.Olavo de Carvalho in:Época nº 176, 1. 10. 200190
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91Der (Gegen-)Aufklärer Olavo de Carvalho, dermich hier zu weitergehenden Überlegungen inspi-riert hat, kann aber auch übers Ziel hinausschießen.Um die Hintergründe der Terrorakte auszuleuchten,beruft er sich in Época (n° 175, 24. September 2001)auf Informationen und Einschätzungen von StanislavLunev, einem ehemaligen Mitglied der sowjetischenMilitärspionage (GRU), der die Seiten wechselte undCarvalho zufolge mittlerweile den CIA berät. In denneunziger Jahren habe Lunev den CIA informiert,Russland habe die alten Spezialeinheiten sowie denmilitärischen Geheimdienst beibehalten und dort lägenPläne bereit für einen Krieg gegen die USA, der be-ginnen könne mit einem Ablenkungsmanöver in Formeines Terrorangriffs. Nach den Attentaten vom 11.September soll Lunev gesagt haben: „Ich habe keinenZweifel, dass Russland hinter diesen terroristischenGruppen stand, indem es sie finanzierte und ausrüs-tete.“ Auch im Golfkrieg habe Russland den USAseine Solidarität erklärt, gleichzeitig aber Technikerund Berater in den Irak geschickt. Russland habe imJuli die Goldwährung wieder zur Grundlage seinerWährung gemacht, weil es wusste, dass der Dollarzusammen mit den Türmen in New York fallen würde.Nichts spricht dafür, dass Russland heutzutagedieses Doppelspiel betreibt. Aus Insider-Informatio-nen ist zu erfahren, dass das russische Geheimdienst-wissen über die Lage in Afghanistan, das den USAzur Verfügung gestellt wurde, für den amerikanischenFeldzug so wichtig ist, dass diese Hypothese auszu-schließen ist. Carvalho beklagt sich in einer seinerKolumnen, in einem Land von Blinden sei zwar derEinäugige König, der Zweiäugige gelte jedoch alsverrückt. Man muss ihn aber zur Vorsicht mahnen:wer Geister sieht, wo keine sind, dem helfen auch zweiAugen nicht.Sträflicherweise völlig vernachlässigt habe ich hiereine Reihe moderater, abwägender und auf Sachlich-keit bedachter politischer Analysen wie sie z.B. inder Zeitung Estado de São Paulo, aber auch im Cor-reio Braziliense und in anderen Zeitungen zu findenwaren. Aufgefallen sind mir eine Anzahl gut durch-dachter Essays, in denen beispielsweise Überlegun-gen darüber angestellt wurden, welche Chancen sichaus der neuen Weltlage ergeben, und zwar gerade fürdiejenigen Länder, die von der Hegemonialmacht USAOlavo de Carvalho, „A origem dos atentados“,in: Época, Jg. 4, nº 175,24. 9. 2001Estado de São Paulo,Correio Braziliense
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bislang allzu stark dominiert und in der Wahrneh-mung ihrer finanz-, handels- und enwicklungspoliti-schen Interessen bevormundet und auch eingeengtwurden. Es sind dies vor allem die Länder der südli-chen Hemisphäre, unter denen Brasilien aufgrundseiner Grösse und seines wirtschaftlichen Potenzialsein besonderes Gewicht hat. Da angesichts der vominternationalen Terrorismus drohenden Gefahren auchso mächtige Staaten wie die USA und die G7-Gruppeviel mehr als zuvor auf internationale Zusammenar-beit und Solidarität angewiesen sind, können nun die‚schwächeren‘ Staaten in den internationalen Bezie-hungen eine größere Bedeutung gewinnen; denn esergibt sich für sie die Gelegenheit, für ihre Bereitschaftzur Kooperation und Solidarität bei der Bekämpfungdes internationalen Terrorismus als gerechte Gegen-leistung die stärkere Berücksichtigung ihrer Interes-sen einzufordern.Wer Brasilien kennt, wird mir entgegenhalten, diesoeben vorgetragene – oder besser: nur angedeutete –Ergänzung seriöser politischer Analyse reiche nichtaus; das hier gezeichnete Porträt bleibe einseitig; esgebe mit Sicherheit mehr an diskutablen Kommenta-ren.Dem werde ich sofort zustimmen. Zeitweilig habeich überlegt, ob ich den Aufsatz ganz anders anlegenund nur die Presseäusserungen berücksichtigen sollte,die mir wegen ihres Gehalts diskutabel erschienen.Ich habe den Gedanken wieder verworfen: denn ichwar nicht am Meinungsbild einer Minderheit unterden brasilianischen Intellektuellen interessiert. Mirging es darum, die Strukturen eines Meinungsspek-trums nachzuzeichnen, das ich für typisch brasilianischhalte, ein Meinungsspektrum, von dem ich glaube,dass es für die Mehrheit der Brasilianer mit einem be-stimmten Bildungsgrad repräsentativ ist. Da ich keinesoziologischen Studien angestellt habe, kann dies nurein subjektives Urteil sein. Was ich für repräsentativhalte, ist durch meine persönlichen Beobachtungenbedingt, und diese wiederum sind bestimmt durchmeine Umgebung und meine sozialen Kontakte. In-folgedessen hat diese subjektive Sichtweise auch dieAuswahl der hier vorgestellten Presseäusserungen be-stimmt.Den subjektiven Hintergrund zu beschreiben, dermeinem Urteil über das möglicherweise Typische an92
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93den Reaktionen der Brasilianer auf die Terroranschlägein Amerika zugrunde liegt, würde zu einem Romanausarten. Stattdessen will ich mich darauf beschrän-ken, einen Einfall wiederzugeben, der mir kam, alsich über genau diesen Punkt nachdachte.Mir fiel ein Buch in die Hand mit dem nicht geradeglücklichen Titel Wir und das Absolute, eine Festschriftzu Ehren eines brasilianischen Philosophen, der zu-gleich Priester ist. Dieser Titel war Ausgangspunktmeiner Überlegung. Wie wäre es mit „Wir und dasRelative“? dachte ich, und mir wurde deutlich, dassman so einen zentralen Charakterzug der westlichenKultur benennen könnte, einer Kultur der Ideenviel-falt, der Ideenkonkurrenz, des Pluralismus, des Wert-relativismus. Kennzeichnend für diese Kultur istnicht absolutes Wissen, sondern hypothetisches Wis-sen, das offen ist für Korrekturen und Verbesserun-gen. Genau darin besteht ihre Dynamik. Dieser Rela-tivismus und Pluralismus, dessen Lebenselexier dieMeinungsvielfalt ist, ist als solcher jedoch ein Werte-kosmos, und zwar insofern, als diese Lebensform fürdiejenigen, die an ihr teilnehmen, so wertvoll ist, dasssie sich mit aller Kraft dagegen wehren, sich demDiktat einer totalitären Ideologie – gleichgültig, obpolitischer oder religiös-fundamentalistischer Prove-nienz – zu unterwerfen. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass es Kulturteilnehmer gibt, die diesenRelativismus missverstehen und in eine Haltungautodestruktiver Skepsis pervertieren.Was die brasilianische Kultur betrifft, so bin ichunsicher, welche Charakteristik auf sie passt. Wohlkaum die der westlichen Kultur. Die hier übliche Kri-tik von Individualismus, Liberalismus und Neolibe-ralismus ist derjenigen, die islamische Kreise vor-bringen, sehr ähnlich. Ist Brasilien im „Westen“ nochnicht angekommen?Dennoch ist an Meinungsvielfalt kein Mangel. Ausdem Ideenpluralismus wird allerdings kaum je eineIdeenkonkurrenz mit dem Impetus von Korrekturund Verbesserung. Das auf ständige Selbstverbesse-rung zielende hypothetische Wissen scheint hier nochnicht heimisch zu sein, oder höchstens mit dem Sta-tus eines „Ausländers“ mit Aufenthaltsgenehmigungauf Abruf. Stattdessen dominiert die Suche nach ab-soluten Gewissheiten. Nicht unbedingt bezogen aufein einziges Absolutes; nicht strikt auf eine einzige
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religiöse Überzeugung ausgerichtet. Die Pluralitätreligiöser Heilsversprechen ist hierzulande beein-druckend. Nicht die eine, die „wahre“ Religion, son-dern das Religiöse als solches ist wichtig, der Bei-stand himmlischer Mächte in allen Fährnissen desLebens, gleichgültig, in welcher Kultform er erflehtwird. Mir ging die Formulierung durch den Kopf:„Wir und die Absoluten (absoluta)“, das Absoluteparadoxerweise im Plural. Sollte das eine adäquateCharakterisierung der brasilianischen Kultur sein?Der Sinn für Staatlichkeit entstand in Europa ausden Erfahrungen der Religionskriege, als zwei christ-liche Konfessionen auf Leben und Tod um die einzigwahre Lehre, um die einzig richtige Auslegung desAbsoluten kämpften und als dann der Staat, von sei-nem Gewaltmonopol Gebrauch machend, den Frie-den wieder herstellte. Religionskriege kannte Brasi-lien nicht, wohl aber die Zwangsbekehrung der ausAfrika importierten Sklaven. Diese jedoch gaben ihrenalten Idolen die Namen von christlichen Heiligen,und im Schutz dieser symbolischen Verkleidung prak-tizierten sie weiterhin ihre aus Afrika mitgebrachtenKulte wie Candomblé, Macumba und Umbanda. DemGewaltmonopol der katholischen Kirche über ihreSeelen entzogen sich die Schwarzen durch scheinbareUnterwerfung. Kein Wunder, dass seither die Ideedes Gewaltmonopols in jeder Form suspekt ist. DasReligionsdiktat misslang; stattdessen begann, nochdazu durch Rassenmischung stimuliert, der Synkre-tismus der Religionen, der seine Spuren in der Volks-frömmigkeit hinterließ. Gegenwärtig lebt diese Tra-dition auch in der Überlagerung und Verschmelzungpolitischer Ideologien fort.Toleranz, Synkretismus und Rassenmischung seiendie besonderen Gütezeichen der brasilianischen Ge-sellschaft, stellt Darc Costa in seinem Artikel „Ca-minho para a intolerância“ (Weg zur Intoleranz) inCarta Capital, nº 157, 19. September 2001, fest. Sieseien es, die Brasilien vor kriegerischen Auseinander-setzungen bewahrt und seine inneren Konflikte – ras-sische, religiöse, ideologische – abgeschwächt haben.Außerdem seien sie der Sozialnatur des Menschenzuträglicher als das angeblich natürliche Gleichge-wicht des Marktes. Wenn Brasilien seine Form vonToleranz, Synkretismus, Rassenmischung und Solida-rität beibehalte, habe es Aussichten, sich auch künf-Darc Costa, „Caminhopara a intolerância“, in: CartaCapital, Jg. 8, nº 157,19. 9. 200194
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95tig von den Routen des Terrorismus fernzuhalten;denn dieser sei ein Erzeugnis der Intoleranz. AlsKonsequenzen der Terroranschläge in New Yorkund Washington diagnostiziert Costa einerseits ver-stärkte Intoleranz im öffentlichen Leben der USA,andererseits aber auch eine außerordentliche Einig-keit der amerikanischen Gesellschaft. Diese neuegesellschaftliche Kohäsion sei aber ihren Preis –gemeint sind offenbar die Opfer und Schäden derTerroranschläge – nicht wert. Was Nordamerika brau-che, seien neue Prioritäten in der Politik, nämlichinnerstaatliche und außenpolitische Solidarität stattder Arroganz des ökonomischen Wettbewerbs. Ohnees ausdrücklich zu sagen, gibt der Autor zu verstehen,es sei vor allem die unsolidarische, durch Konkur-renzkampf und Gewinnstreben geprägte Lebens-form, die Nordamerika zum Hauptziel der Terror-angriffe machte. Hier wird in halbwegs subtiler Formder Brazilian way of life gegen den amerikanischenLebensstil ausgespielt. Man könnte es auch schlichterausdrücken: Die Amerikaner müssten von den Brasi-lianern lernen. Im Vulgärjournalismus und in Ge-sprächen kann die Botschaft universalen Charakterannehmen und lautet dann direkt und ungekünstelt,Brasilien sei ein Modell des Friedens für die ganzeWelt. Weltfrieden durch Rassen-, Kultur- und Ideo-logienmischung.Bisweilen nimmt die spezifisch brasilianische Tole-ranz auch merkwürdige Züge an. Kürzlich verkün-dete ein in Brasilien sehr populärer Sänger in allerÖffentlichkeit, was immer man auch sonst noch überBin Laden sagen möge, eines sei sicher: Er sei ein„schöner Mann“. Ein Ehepaar wollte dem neugebo-renen Sohn den Namen ‚Bin Laden‘ geben, und alsdie Behörde Einspruch erhob, insistierte das Ehe-paar, es sei doch ein so schöner Name. Mit Vornamenwie Stalin, Lenin und Mussolini bezeugen noch heuteSechzig- bis Siebzigjährige die ideologischen Vorlie-ben ihrer Väter.Am Marathonlauf zu Sylvester 2001 in São Paulonahm eine Gruppe von „Friedenskämpfern“ teil, kar-nevalsmäßig kostümiert und jeder ein Stirnband mitder Aufschrift „Frieden“ (PAIZ) tragend. Nach einerWeile unterbrachen sie ihren Lauf, um sich vor denFernsehkameras zur Schau zu stellen. Die beidenHauptdarsteller waren als George Bush und Osama
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Bin Laden verkleidet. Mit Gesten herzlicher Freund-schaft fielen sie sich in die Arme. In der Großfamilie,bei der wir zur Sylvesterfeier geladen waren, warenalle glücklich über diese vom Fernsehen übertrageneschöne Friedensbotschaft zum Neuen Jahr. Hierwürde sich niemand wundern, wenn der in São Paulomit Bush Frieden schließende Bin-Laden-Darstellerjener Professor gewesen wäre, der die Mordlust derTerroristen auf Bush als Opfer hatte eingrenzen wol-len. Das wäre ja bereits ein großer Fortschritt.Wäre es wirklich ein Fortschritt? Was ist das eigent-lich für ein Frieden, der durch diesen Bruderkusssymbolisiert wird? Was ist das für eine Aussage? Lau-tet die Botschaft: „Vergessen wir die Zwillingstürme,das Pentagon, die Tausende unschuldiger Opfer; wirsind dennoch Brüder, Söhne desselben himmlischenVaters“? Ist es Toleranz als kategorischer Imperativ:Toleranz auch denen gegenüber, die aus IntoleranzMassenmorde anstiften oder begehen? Unwillkürlich muss ich an die Mahnungen meinerFrau denken, einer waschechten Brasilianerin. Wennsie nach Diskussionsrunden meine Irritationen erspürt,dann sagt sie: „Du musst das alles nicht so ernst neh-men, was sie sagen. Du verlangst Stringenz. Das hatdoch keinen Sinn. Das sagen sie nur so dahin. Siemeinen es doch gar nicht so.“Sie meint es gut. Doch manchmal irritiert es michnoch mehr, wenn sie so etwas sagt. Auch jetzt geht esmir so. Denn im konkreten Fall frage ich mich: Dieradikaldemokratischen Utopisten und die Friedens-kämpfer: meinen sie, was sie sagen, oder wissen sienicht so genau, was sie meinen?Aber ein Trost bleibt mir doch: mit dem Exportdes Brazilian way of life hat es wohl auch niemandganz so ernst gemeint. Meinem Freund, Herrn Dr. Klaus Rosen, möchte ich für Anregungen undIdeenaustausch zu diesem Thema, die durch die globalisierten Medienmöglich wurden, herzlich danken. Die Unzulänglichkeiten dieses Artikelsfallen allein mir zu Last.96