ISLAM

Keine Huris im Paradies

Das ist eine schlechte Nachricht für jene, die den Koran politisch missbrauchen: Mit der Vision von den willigen Huris werden junge Männer fürs Märtyrertum geködert. Für alle, die an einer Klärung des Koran-Textes interessiert sind, sollte die stimmigere Lesart ein Grund zur Freude sein. Freilich ist die Sache nicht so einfach. Radikale Revisionen wie diese lösen naturgemäß höchst gemischte Gefühle aus, und zwar bei frommen Muslimen ebenso wie bei der etablierten Islam-Wissenschaft.

Hinter dem Decknamen Luxenberg – der manchen an den Mythenzerstörer Lichtenberg erinnern mag – steckt kein Polemiker, sondern ein strenger Philologe. Er hat seine Forschungen nicht sensationsheischend vermarktet. Seine Studie trägt den graumäusigen Titel: Die syro-aramäische Lesart des Korans. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache . Die Fachwelt hat gleichwohl erkannt, welcher Sprengstoff sich in den philologischen Erörterungen verbirgt. Die erste Reaktion war blanke Angst.

Fast nämlich hätte Luxenbergs Buch das Licht der Öffentlichkeit nicht erblickt. Die großen akademischen Verlage zogen sich nach anfänglichem Interesse mit dezentem Hinweis auf die Verfolgung von Salman Rushdie zurück. Ende 2000 kam Luxenburgs Werk in einem mutigen Berliner Kleinverlag namens Das Arabische Buch heraus, ohne große Hoffnung auf öffentliches Interesse. Inzwischen ist der Verlag pleite, das Buch wird aber von seinem Nachfolger, dem Schiler Verlag, weiter ausgeliefert.

Den etablierten Verlagen wird ihre vorauseilende Feigheit mittlerweile leid tun. Der erste Weltkongress der Orientalisten widmete Luxenberg im letzten Herbst in Mainz ein eigenes Symposium. Der Guardian, die New York Times und kürzlich auch Le Monde haben prominent über Luxenberg berichtet, sehr ungewöhnlich für einen deutschsprachigen akademischen Titel von solcher Entlegenheit. Der Philosoph Rémi Brague, ein führender Spezialist für die arabische Philosophie des Mittelalters, widmet Luxenberg einen langen, euphorischen Essay im Aprilheft der Zeitschrift Critique. Am weitesten geht die semitistische Fachzeitschrift Hugoye (Januar 2003): „In der Geschichte der Koran-Forschung ist ein solches Buch noch nicht vorgekommen. Ähnliches gibt es bisher nur im Bereich der textkritischen Bibelauslegung. Ob Luxenberg in jedem Detail Recht hat oder nicht – mit seinem Buch hat er in der Auslegung des Koran die ‚kritische Wendung‘ gebracht, die die Bibelkommentatoren vor mehr als einem Jahrhundert nahmen.“ Die Berliner Koran-Expertin Angelika Neuwirth dämpft diesen Überschwang: „Luxenbergs Linguistik ist altmodisch positivistisch.“ Aber auch sie anerkennt, dass er mit seinen Thesen „in ein Vakuum der modernen Koranforschung stößt“ und das Buch ein „lehrreicher Stein des Anstoßes sei“.

Bisher gibt es in der Tat keine kritische Ausgabe des Korans – des religiös, kulturell und politisch einflussreichsten Textes der heutigen Welt, nachdem das Kommunistische Manifest diesen Rang eingebüßt hat. Niemand hat die verschiedenen Stimmen, Stile und Textschichten bisher systematisch untersucht, wie es an der Bibel seit dem 19. Jahrhundert geleistet wurde. Dabei ist die Unverständlichkeit vieler Stellen keineswegs nur für Nichtmuslime ein Problem. Sie war bereits dem großen Tabari (838 bis 923), dem berühmtesten Koran-Kommentator der frühen Zeit, in seinem 30-bändigen Tafsir wohl bewusst.

Auch die Islam-Wissenschaft von heute kommt um die dunklen Stellen nicht herum. Navid Kermani hat in seinem preisgekrönten Buch Gott ist schön die Undurchdringlichkeit der Koran-Sprache ins Positive gewendet und eine anspruchsvolle Ästhetik der „Offenheit“ des Korans formuliert. Kermani liest die kryptischen Stellen wie absolute Poesie und kann so Wahrheits- und Echtheitsfragen auf produktive Weise ausklammern. Der Hauptstrom der Forschung aber hat vor dem Rätsel der Koran-Sprache resigniert. Man hat Formeln gefunden, hinter denen es elegant verschwindet. So sagt etwa Hartmut Bobzin, ein führender deutscher Koran-Spezialist von der Universität Erlangen, der Koran werde „gleichsam durch Gewöhnung verständlich, und die altertümliche Form der Sprache wirkt wie Patina, die den religiösen Charakter des Korans in besonderem Maße unterstreicht“. Das ist eine vornehme Formulierung für die wissenschaftliche Kapitulation vor der hergebrachten Lehre.